Im Zeichen des Löwen: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
überhaupt keinen Anstand. Eine … eine Beerdigung zu stören! Schämt ihr euch denn überhaupt nicht?«
»Aber ich hab doch nichts damit zu tun, verdammt«, schrie Brage noch einmal und schlug immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand. »Laßt mich raus, zum Teufel!«
Doch die einzige Antwort darauf waren das Brummen des Wagenmotors und das gemurmelte Mantra der anderen Verhafteten:
»Stop the whaling NOW! Stop the whaling NOW!«
12.13, Osloer Dom
»Es war wunderschön. Und so rührend!« Schluchzend hing Lerche Grinde am Arm ihres Sohnes. Sie bemühte sich, leise zu sprechen, aber ihre Stimme war so schrill, daß sogar ihr Flüstern meterweit zu hören war. Ihre gesamte Kleidung war schwarz, ihre Stöckelschuhe, ihre Netzstrümpfe, ihr Kleid, ihr Umhang. Zu allem Überfluß trug sie einen funkelnden Pillboxhut mit einem steifen schwarzen Schleier.
»Nimm dich doch zusammen, Mutter«, flüsterte Benjamin Grinde. »Kannst du dich nicht wenigstens ein bißchen zusammennehmen?«
In der Vorhalle des Doms standen Roy Hansen und Per Volter, beide im dunklen Anzug. Der Sohn war einen halben Kopf größer als der Vater, beide sahen verhärmt aus und starrten auf den Fußboden. Sie streckten ihre Hände aus, ohne hinzusehen, und viele Trauergäste gingen nach kurzem Zögern weiter, ohne ihr Beileid auszusprechen. Andere blieben stehen und sagten einige leise Worte, die meisten der Ministerinnen umarmten die beiden lange und herzlich.
Liten Lettvik stand mit einigen anderen Presseleuten etwas entfernt und betrachtete die Trauernden. Als Ruth-Dorthe Nordgarden als letzte Ministerin vortrat, wandte Roy Hansen sich ab, anscheinend mußte er gerade jetzt weinen und konnte erst damit aufhören, als Ruth-Dorthe aufgegeben hatte und durch das schwere Eichenportal verschwunden war. Per Volter dagegen hatte sich offen geweigert, die ausgestreckte Hand der Frau zu ergreifen, und sich demonstrativ zum Bischof von Oslo umgedreht, der in vollem Ornat neben den Trauernden aufragte; er sah aus wie ein in die Jahre gekommener Adler mit geliehenen Federn.
»Roy!« flüsterte Lerche Grinde, als sie ihn endlich erreicht hatte. »Roy! Was für eine Tragödie!«
Liten Lettvik bewegte sich Richtung Ausgang. Wer war die alte Frau an Richter Grindes Arm?
»Ausgerechnet Birgitte«, sagte Lerche Grinde jetzt, und die Umstehenden drehten sich zu ihr um. »Wie entsetzlich! Die kleine Birgitte. Die kleine, unschuldige Birgitte!«
Sie schniefte laut und wandte sich Per Volter zu, der diese seltsame Frau, die er noch nie in seinem Leben gesehen hatte, verwundert anstarrte.
»Per! Wie groß und elegant!«
Sie versuchte, den jungen Mann zu umarmen, aber der wich erschrocken zurück.
»Gott, ich glaube, ich falle in Ohnmacht«, keuchte die alte Frau Grinde.
Benjamin Grinde umklammerte den Arm seiner Mutter, ein Polizist packte sie um die Taille und richtete sie auf.
»Ich helfe Ihnen hinaus, gnädige Frau«, sagte er höflich und führte sie, ohne auf Antwort zu warten, durch die Tür und die Menschenmenge. Benjamin Grinde stapfte hinterher und schlug sich den Mantelkragen vors Gesicht.
Die Presse in der Vorhalle schmunzelte über diesen Auftritt. Alle außer Liten Lettvik, die sich in einem kleinen Block notierte:
»Alte Frau mit BG. Interessant?«
13.00, Slottsbakken
Die Journalisten hatten recht behalten. Sie hatten alle sechzehn Ministerposten korrekt erraten. Die Regierungspatience war ohne größere Überraschungen aufgegangen. Tryggve Storstein stand mitten in der langen Reihe seiner Kolleginnen und Kollegen, hielt einen großen Strauß roter Rosen in der Hand und lächelte zurückhaltend, wie es der Anlaß erforderte. Schließlich war seine Vorgängerin erst vor einer Stunde zur letzten Ruhe gebettet worden.
Es nieselte, und die Verkehrsministerin schien den Fototermin möglichst bald hinter sich bringen zu wollen. Immer wieder schaute sie auf die Uhr und ging zu früh auf die schwarzen Regierungswagen zu. Tryggve Storstein packte sie am Arm und hielt sie zurück.
Endlich war alles vorüber; die Versammlung zerstreute sich. Liten Lettvik faßte Ruth-Dorthe am Arm und erzwang sich eine Umarmung.
»Mobiltelefon, heute abend«, flüsterte sie ihr ins Ohr.
17.15, Hauptwache Oslo
»Erst lädt er die Polente zur Waffenbesichtigung ein, und dann verduftet er. Kapierst du nicht, daß das ganz einfach zum Himmel stinkt, Håkon?«
Håkon Sand trommelte demonstrativ mit der rechten Hand einen Wirbel auf seinem Schreibtisch.
»Daß
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