Im Zug (German Edition)
jetzt?
Überall ringsum dehnte sich watteweißer Nebel aus, dicht, feucht und kalt, zugleich aber erstaunlich hell, als würde darüber schon die Sonne scheinen und die Lichtstrahlen nur allmählich durch die zähe, störrische Wolkenmasse dringen, um sie aufzulösen. Unwillkürlich empfand Helen diesen Nebel als natürlichen Verbündeten. Begründen konnte sie das nicht.
Um Helens Füße war ein wenig feuchtes Gras zu erkennen.
Feuchtes Gras …, das zertrampelt war vom Schritt vieler Personen, die offensichtlich wild durcheinander gelaufen waren. Zeugnisse erst kurz zurückliegender, dramatischer Ereignisse …
Helen merkte, wie ihr Herz heftig zu pochen begann.
„ Wo bin ich hier?“, flüsterte sie nervös. Sie riss die Augen weit auf und schaute sich um, zunehmend von Furcht erfüllt. Dieser Ort, wie viel vertrauter er auch immer schien, war nicht minder entsetzlich und unheimlich als dieser niemals endende, immer gleiche Zug, in dem Raum und Zeit aus den Fugen zu sein schienen.
Hatte sie den Zug gegen ein Land des ewigen, undurchdringlichen Nebels eingetauscht? Und wieder gegen Einsamkeit?
Wo war Vicky? Warum spürte sie ihr warmes Gewicht nicht mehr?
Was war eigentlich passiert?
Schon wieder diese entsetzliche Frage, auf die es keine Antwort gab!
Ängstlich setzte Helen unsicher Fuß vor Fuß, schritt langsam weiter über die wellige, unebene Wiesenfläche. Sie folgte dabei dieser Horde von Fußspuren, dem zertrampelten Gras, das teilweise so sehr in Mitleidenschaft gezogen worden war, dass die Grasnarbe zu erkennen war und der dunkle Mutterboden, in dem die Pflanzen wurzelten.
Was war hier passiert? Und was machte sie hier?
Auf einmal war da ein Schatten vor ihr. Helen erkannte, als sie näher trat, eine wenige Fuß hohe Böschung, bestehend aus schlüpfrigem grauen und schwarzen Schotter. Einzelne traurige Kräuter versuchten tapfer auf der kargen Steigung zu bestehen.
Ein Bahndamm.
Es war ein Bahndamm!
Helen blieb stehen. Es war, als wäre sie gegen eine Mauer gelaufen.
‚ Von dort komme ich‘, begriff sie jählings. Irgendwo dort oben … in diesem undurchdringlich scheinenden Nebel … da war der Zug. Jener Zug, den sie auf unbegreifliche Weise, offenbar in geistiger Umnachtung, verlassen hatte.
Und dort befand sich auch Victoria.
‚ Vicky, ich hoffe, du hast nicht schon wieder Angst, wenn du aufwachst … und ich nicht mehr da bin‘, bangte Helen ein wenig. Das kleine Mädchen war ihr sehr ans Herz gewachsen, und es konnte so unglaublich schmerzhaft schluchzen …
Helen Edwards versuchte, einen weiteren Schritt in Richtung Bahndamm zu machen, doch ehe sie begriff, was geschah, was sie tat … da hatte sie sich herumgedreht und flüchtete in die Richtung, aus der sie gerade gekommen war.
Flüchten war der einzig passende Begriff dafür.
Sie verstand nicht, weshalb sie das tat, aber … der Bahndamm jagte ihr ein entsetzliches, unendliches Grauen ein. Als würde sie dort etwas erfahren können, was sie um keinen Preis der Welt glauben, wissen, verstehen WOLLTE.
Eine unbestimmte Zeitlang hastete Helen ziellos durch den dichten Nebel und das feuchte Gras, ohne sich darum zu kümmern, dass sie eventuell stolpern und stürzen konnte. Es wurde ihr gar nicht recht bewusst.
Als Helen schließlich atemlos verharrte und stehen blieb, und sich ihr keuchender Atem allmählich beruhigte, der als weiße, dunstige Fahne vor dem Gesicht stand, da kamen ihr die Stimmen zu Bewusstsein. Sie drangen schon eine Weile an ihre Ohren, ohne dass die Historikerin sie registriert hätte, so sehr war sie mit ihrer eigenen, irrationalen Panik beschäftigt.
Die Stimmen klangen in geringer Distanz auf. Hier schien der Nebel dünner zu sein, der nicht nur Helens Laufgeräusche gedämpft hatte, sondern wohl auch die Unterhaltung der Leute.
Männerstimmen.
Es waren einwandfrei Männerstimmen.
Dann vernahm Helen Edwards das dumpfe, ferne Bellen von Hunden.
Das Knirschen schwerer Stiefel. Seltsame Laute wie Metall gegen Metall, sowie in der Ferne ein Angst einflößendes, aggressives Fauchen und Knattern, das sie gar nicht einordnen konnte.
Und Schluchzen. Eine weibliche Person schluchzte zum Steinerweichen.
Das war schon vertrauter.
‚ Vicky? Haben sie dich auch aus diesem verfluchten Zug herausgeholt?‘ Eine Woge der Erleichterung durchströmte Helens Verstand. Gütiger Himmel, sie sehnte sich nichts mehr, als das kleine, sterbensmüde Kind wieder liebevoll in die Arme zu schließen und zu
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