Im Zug (German Edition)
zuviel zum Grübeln neigten, legten sich Kinder einfach hin, schlossen die Augen und waren im Nu weggedämmert. Jetzt schien das Vicky auch zu widerfahren.
Helen lächelte verständnisvoll. „Nichts zu entschuldigen, Vicky. Es ist eine lange Bahnfahrt, hm?“
„Ja“, murmelte das Mädchen, wieder mühsam ein Gähnen unterdrückend.
Es klappte den Koffer endgültig zu, nachdem es die Puppen sorgsam wieder darin verstaut und mit einer Decke zugedeckt hatte. Amüsanterweise fiel Helen Edwards dabei auf, dass sich die Decke durch ein Tartanmuster schottischer Herkunft auszeichnete. Bei französischen Mannequins wirkte es etwas fehl am Platze. Aber davon konnte Victoria natürlich nichts wissen. Wenn sie nicht einmal davon gehört hatte, wer Königin Elisabeth und Sir Francis Drake waren …
„Weiß auch nicht, warum ich plötzlich so müde bin …“
Ehe sich die überraschte Historikerin dagegen wehren konnte, glitt Vicky von ihrem Sitz herunter, krabbelte auf Helens Beine hinauf und lehnte sich vertrauensvoll mit dem Rücken gegen sie. „Möchte nur ein bisschen rausschauen …“
„Okay“, murmelte die Helen und schmunzelte ein wenig. Zugleich begann sie das warme, beruhigend feste Gefühl des Kinderkörpers auf ihrem Schoß zu genießen begann. Ihre Verblüffung wich schnell einer zärtlichen Dankbarkeit für das so vertrauensselige kleine Kind. Gott, war Victorias Gegenwart beruhigend . Wunderbar. Dabei konnte man alle Sorgen und Ängste einfach so vergessen. „Lehn dich einfach an.“
„... ist lieb von dir …“
Kurze Zeit später stellte Victoria wie erwartet jede bewusste Bewegung ein und sank schlaff gegen Helens Brust. Ein vorsichtiger Blick in ihr Gesicht signalisierte Helen, dass sie weniger aus dem Fenster schaute, als vielmehr fest eingeschlummert war.
Eine ganze Weile herrschte wunderbares Schweigen im Abteil, nur durchbrochen von dem gelegentlichen, gespenstischen Ruck, der das Mädchen nun aber nicht mehr aufschreckte; und ansonsten hörte man nur das Rauschen des Windes an den Waggons entlang, das Schnurren der rasenden Abteilwagen auf der endlosen Bahnstrecke ins Nirgendwo.
‚Mein Gott, Vicky, wie ich dich beneide !‘, dachte Helen schließlich wehmütig, die ihre Arme um das Mädchen gelegt hatte und dafür mit einem instinktiven Ankuscheln der Kleinen belohnt worden war, das Helens Herz wärmte. ‚Du hast eine tolle, erfolgreiche Mutter, einen nicht minder erfolgreichen Vater … bist ein wunderschönes Mädchen, wohlversorgt … und selbst in dieser verzweifelten Lage hast du einen gesunden Schlaf!‘
Sie selbst starrte hinaus in die Finsternis der endlosen Nacht, in der nur dann und wann Lichter aufflackerten wie von fernen Straßen und Gehöften, ohne dass man sie genauer erkennen konnte.
Von Zeit zu Zeit durchfuhr den Waggon der wohl vertraute Ruck.
Wieder und wieder.
Wie in einer endlosen Schleife.
Der wirre Eindruck, der Zug würde immerwährend im Kreise fahren gleich einer Schlange, die ihren eigenen Schwanz verschlang, ohne es zu spüren, verstärkte sich immer mehr. Die immergleichen Reize besaßen auf die ebenfalls völlig erschöpfte Historikerin einen geradezu hypnotisierenden, einschläfernden Einfluss. Obgleich sich Helen Edwards bemühte, die Augen offen zu halten, gelang es ihr nicht. Immer wieder sackten die schweren Lider für Augenblicke herab. Und irgendwann nahm sie nur noch ein wirres, flackerndes Muster aus Schwarz und fahlen, fernen Lichtern wahr.
Sie schloss die Augen, um sie ein wenig zu beruhigen.
Und dann dämmerte Helen Edwards selbst weg, das unvermittelt zum Waisenkind gewordene sechsjährige Mädchen auf dem Schoß, fest mit den Armen umfangen …
*
Helen träumte.
Oder wenigstens nahm sie an, dass sie träumte. Das hätte alles sehr erleichtert.
Rings um sie waberte heller Nebel, der alles so sehr einhüllte, dass es unmöglich war, weiter als über seine Fußspitzen hinaus zu sehen. Im ersten Moment, als Helen Edwards das erkannte, blieb sie wie angewachsen stehen, frierend in der klammen, feuchten Kälte.
Sie befand sich einwandfrei nicht mehr im Zug, und das erleichterte sie ebenso sehr, … wie es die subtil verstörte. Das Gefühl, sich vielmehr irgendwo zu bewegen, wohin sie gar nicht gehörte, war dermaßen überwältigend, dass sie am liebsten sofort umgedreht hätte, um dorthin zurückzulaufen, woher sie gekommen war.
Nur – wo war das?
Woher war sie gekommen? Aus dem Zug? Und wenn ja, wo befand er sich
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