Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Zug (German Edition)

Im Zug (German Edition)

Titel: Im Zug (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Lammers
Vom Netzwerk:
dass Vicky nun ihr das feuchte Gesicht abtrocknete. Zugleich blinzelte sie verunsichert, ließ die Augen wandern und registrierte alles, was vorher auch schon dagewesen war: das behagliche, gelblich beleuchtete Zugabteil, den Puppenkoffer des Mädchens, in den Gepäcknetzen unter der Decke weitere Koffer … der wippende Mantel des Mannequins Antonia Mariakis am Haken neben den Sitzen … und jählings sprang die Erinnerung Helen Edwards an.
    Gott, sie hatte diese Mutter gesehen! Sie hatte Antonia gesehen … die schöne, verletzte Mutter, die trauernd draußen am Bahndamm im klammen Nebel saß und um Victoria weinte, um ihr verlorenes Kind klagte  …
    Verstört sah Helen zur anderen Seite, genoss das das warme, gelbliche Licht der Abteilbeleuchtung … und entdeckte draußen, draußen vor dem Zugfenster, die noch immer herrschende, nie endende Finsternis einer ewigen, unnatürlichen Nacht, untermalt von dem gelegentlichen Vorbeihuschen ferner Lichter, die wie die Häuser und Laternen einer Kleinstadt wirkten, aber zu schnell vorbei waren …
    Und dann dieser Ruck.
    Oh Gott, dieser vermaledeite Ruck!
    Als sie sich darauf konzentrieren wollte, fuhr Helen wirklich zusammen. Denn jetzt … gab es eine Veränderung. Dieser Ruck, er war … er war …
    „Ich habe auch geschlafen und geträumt, Helen“, unterbrach das Mädchen ihre erschrockenen Gedanken ganz unvermittelt, vielleicht, um ihre sichtbare Furcht zu verscheuchen.
    ‚Hat sie denselben Traum gehabt?‘ Die Vorstellung war einfach entsetzlich. Aber wenn es sich so verhielt … dann war die kleine Vicky viel, viel mutiger als sie selbst! Jäh war der Gedanke an den Ruck – den ausbleibenden Ruck, an den sie sich so sehr gewöhnt hatte! – verschwunden.
    „Glaubst du mir nicht?“
    Helen starrte Victoria an, aber in dem hübschen, wenn auch noch immer von den früher an diesem ewigen Abend vergossenen Tränen verweinten Gesicht des Kindes stand absolut kein Schrecken geschrieben, und Helens erschrockener Kommentar: Bitte, ich will den Traum gar nicht hören! , dieser Kommentar erstarb auf Helens Lippen, bevor er laut werden konnte.
    „Doch … doch …“, murmelte sie verunsichert.
    „Es war ein ganz seltsamer, aber schöner Traum, glaubst du?“
    „Na ja … ich … ich weiß nicht“, stammelte die noch immer hochgradig verstörte Historikerin. Sie konnte sich nicht dazu entschließen, ob sie Victoria dazu ermuntern sollte, mehr zu sagen oder lieber nicht. Sie verspürte eine unglaubliche, den Verstand schier zermalmende Furcht. „Ich … ich meine … ich kann doch deine Träume nicht sehen, Vicky …, weißt du?“
    Das Mädchen kicherte süß. „Oh. Ja, natürlich. Soll ich ihn dir erzählen?“
    Helen konnte nur mühsam nicken.
    Während sie das tat, lauerte die Historikerin immer noch auf den furchtbaren Ruck des Waggons.
    Ein Ruck, der nicht kam.
    Er kam einfach nicht!
    Helen hätte es nie für möglich gehalten, dass dieses Detail sie so sehr verstören konnte. Und doch … und doch machte es sie fast verrückt, diesen Ruck nicht mehr zu spüren! Oh, bitte, einmal nur noch! Ein einziges Mal! Bitte!, flehten Helens Gedanken, und sie spürte, wie sie den Tränen nahe war.
    Sie verstand sich selbst nicht mehr. War sie jetzt restlos verrückt geworden?
    „Ich habe nämlich geträumt, wie wir den Bahnhof erreichen, weißt du?“, plauderte Victoria strahlend und mit großer Eindringlichkeit. „Und das war der schönste Bahnhof, den ich jemals gesehen habe. Weißt du, er sah ein bisschen so aus, als ob er auf einer Wolke schwebte …“
    „Wolke?“, flüsterte Helen ungläubig. Ein Schauer des leisen Grauens durchfuhr ihren ganzen Leib. Das Mädchen ignorierte ihren Kommentar und fuhr vergnügt fort, noch ganz erfüllt von den intensiven Traumbildern, die es gesehen hatte.
    „... denn es war ganz hell da, so unglaublich hell wie auf keinem Bahnhof, den ich kenne“ Süßes Grübeln trat in ihre unreifen, liebreizenden Gesichtszüge, und ein wenig Geringschätzung. „Die meisten Bahnhöfe sind ja ganz dunkel und trübe, schmutzig und alt. Ich weiß das, weil Mum und ich schon viele gesehen haben. Da ist es so laut und schmutzig … Aber der hier ist das nicht. Das ist der sauberste Bahnhof von der Welt, ganz bestimmt! Und alle Leute dort sind so glücklich !“
    Rasch kristallisierte sich für Helen durch unsichere Nachfragen heraus, dass Victoria einen gänzlich anderen Traum geträumt hatte als sie selbst. Während die

Weitere Kostenlose Bücher