Im Zug (German Edition)
„Ehrenwort? Ehrenwort, Tante Helen?“
„Ich kann dich doch nicht alleine lassen“, versicherte Helen eindringlich. „Natürlich bleibe ich bei dir, Schatz!“
Ihr wurde ganz warm ums Herz, als sie begriff, dass sie füreinander Rettungsanker darstellten: sie ersetzte für Victoria die Mutter, und Victoria würde dafür Sorge tragen, dass Helen sich nicht völlig verloren und einsam vorkam. Und einen Sinn im Leben hatte.
Im Leben …
Noch so ein gruseliger Gedanke.
„Glaub mir, Schatz …“, lenkte sich Helen Edwards schnell von diesem unerwünschten mentalen Irrlicht ab, das eine neue Gänsehaut auf ihren Rücken zauberte, wenn sie nur eine Sekunde länger darüber nachdachte, „glaub mir, ich habe doch vorhin schon mal gesagt – du bist ein ganz bezauberndes Kind. Und wenn ich selbst Kinder hätte … ich bin sicher, ich würde mir wünschen, dass sie wie du sind. Ganz genau wie du!“
„Ehrlich?“ Verblüfft und gleich darauf staunend schaute Vicky zu ihr empor. Als das Mädchen begriff, dass Helen völlig im Ernst sprach, da umarmte es die Historikerin selig und dankbar.
Während das geschah, blickte die Historikerin unwillkürlich über die schmale Schulter des Mädchens aus dem Fenster, weil sie meinte, aus den Augenwinkeln eine subtile Veränderung registriert zu haben.
Im ersten Moment verstand Helen Edwards freilich nicht, worin sie bestehen mochte.
Dann fielen ihr die Sterne auf.
‚Oh, gütiger Himmel …‘, ging es ihr durch den Kopf. Ihr Mund öffnete sich ungläubig, während sie ganz starr dasaß und draußen ein Stern nach dem nächsten am dunklen Himmel aufblühte, als handele es sich um ein himmlisches Feuerwerk.
Aber das war kein Feuerwerk.
Das war nichts, was sie jemals gesehen hatte.
Der ausbleibende Ruck des Zuges und alles, was sie im Traum gesehen und gehört hatte, war mit einem Schlag vergessen. Vollständig vergessen.
„Mein Gott!“
Vicky fuhr bei ihren heiseren Worten unverzüglich erschrocken hoch. Doch das änderte sich sofort, als sie begriff, was Helen so verstörte. Rasch machte sich das Mädchen aus der fürsorglichen Umarmung frei, sprang auf den Beinen und eilte ans Abteilfenster.
Ihre Sorge und Verstörung von eben war wie weggeblasen.
Victoria vollführte stattdessen niedliche kleine Luftsprünge, erfüllt von lebhafter, kindlicher Ungeduld und einer für Helen ganz unverständlichen Freude. „Siehst du! Ich habe es dir doch gesagt, Tante Helen! Siehst du? Der ganze Himmel ist voller Sterne … ist das nicht wunderschön? Und dahinten … da, da … da ist auch die Stadt ! Sicher sehen wir gleich den Bahnhof !“
Victoria behielt Recht.
Der geisterhaft veränderte Zug mit den zwei einzigen Insassen, die er noch beförderte, legte sich schnaufend und etwas langsamer werdend in eine lange Rechtskurve, dabei schien er einen leichten, seltsam glatten Hang zu erklimmen. Einen Hang, den es auf dieser Strecke einfach nicht GAB. Nicht auf dem Weg nach Oxford.
Aber, machte sich Helen klar, sie hatte doch längst begriffen, dass das hier nicht mehr die Reise nach Oxford war … hierbei handelte es sich buchstäblich um die Reise ihres Lebens …
Auf der Spitze dieses nie gesehenen Höhenzuges erhob sich, immer größer werdend, als sei sie noch im Wachstum begriffen, eine Stadt, wie sie auch Helen Edwards noch nie gesehen hatte. Und sie war wirklich nicht wenig herumgekommen …
Am ehesten wirkte das Häusermeer, das nun vor ihnen aufwuchs und von strahlendem Licht durchflutet wurde, als habe man die farbigen und weißen Fenster gotischer Kathedralen aus ihren finsteren steinernen Ummantelungen entfernt, ins Unendliche vergrößert und auf bizarre Weise mit der Skyline von New York gekreuzt. Alles, was sie hier sehen konnten, war eine Kulisse aus gleißend hell erleuchtetem Glas und Kristall, als hätten die Baumeister diese ganze Stadt aus reinem Bergkristall geschlagen. Weitläufige, glitzernde Brücken aus Edelsteinen spannten sich über breite Straßenschluchten zwischen Schwindel erregenden Gebäuden, deren Spitzen in der Tat in einem nun immer strahlenderen Firmament entschwanden.
Es war eine unmögliche, unvorstellbare Stadt, wie eine Konstruktion aus einem fantastischen Märchen, ornamentiert und verziert wie ein Wunschtraum eines Antoni Gaudi, verschmolzen mit dem Verzierungsperfektionismus maurischer Steinmetze und ornamentiver Obsession der Jugendstilära. Ein Traum …
Helen ertappte sich, wie sie plötzlich selbst neben
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