Im Zug (German Edition)
Victoria am Fenster stand, die Hände an die kalte Fensterscheibe gelegt, nur noch fassungslos staunend. All ihre Angst von vorhin löste sich auf, als gebe es dafür gar keinen Grund mehr. Stattdessen erfüllte sie eine euphorische Stimmung, die immer stärker wurde, je intensiver der dunkle Zug von dem strahlenden, warmen Leuchten eingehüllt wurde, ja, selbst zu strahlen begann, als wäre er auch aus Kristall geschlagen oder geschnitten.
Die Waggons hinter der nun erkennbaren Lokomotive glitten in einen langgestreckten Bahnhof ein, zeitgleich mit unzähligen anderen Zügen, die an parallelen Gleisen zu entdecken waren. Die meisten sahen voll besetzt aus, und aus den offenen Fenstern ihrer Abteile strahlten und winkten lachende und fröhliche Menschen.
Auf den Bahnsteigen, die wie aus Diamant gehauen und von amethystenen und opalfarbenen Dächern überwölbt waren, drängten sich ebenfalls Menschenmassen wie auf keinem anderen Bahnhof, den Helen Edwards jemals gesehen hatte. Die Bahnsteige wurden bevölkert mit Hunderten, Tausenden von Menschen aller Altersstufen, aller Nationalitäten, und ein farbenprächtiges Meer aus Kleidern und Anzügen breitete sich vor Helens Augen aus.
Gott, sie konnte sich gar nicht sattsehen daran! So viele Details! So viele Farben, Nuancen, Kleider, Moden, Gesichter, Bewegungen in den dichten Menschentrauben … und nirgendwo Anzeichen für Ungeduld, Stress, Hektik … rein gar nichts. Es sah überdies so aus, als seien all diese Personen nur solche Besucher, die auf Zugreisende warteten und sie in Empfang nehmen wollten.
Der Gedanke ließ Helens Herz heftig pochen, erfüllt von einer ungläubigen, glückseligen Verzückung, deren Ursache sie sich noch nicht eingestehen mochte. Vielleicht verhielt es sich ja hier auch wie mit ihrem schrecklichen Nebel-Traum oder mit diesem furchtbar veränderten Zug … vielleicht war das nur ein neues, scheinbar idyllisches Zeichen für ein unterschwelliges Grauen …
Aber sie glaubte nicht daran.
Helen Edwards sah Victorias Verzückung und ihre helle Begeisterung, und sie war unglaublich ansteckend.
Nein, sie fühlte die feste Überzeugung: jetzt würde alles gut werden!
Je näher sie den langen, luxuriös breiten Bahnsteigen unter ihren glitzernden Dachbögen kamen, desto mehr wurden Einzelheiten in der so bunten Menschenschar erkennbar, Einzelheiten, die Helen als Historikerin mit großer Freude beobachtete und in sich aufsog – Kleidungsstücke, die teilweise wirkten, als stammten sie aus einem Requisitenfundus für das Theater; breite Reifröcke, enge Mieder, zierliche Sonnenschirme, weiße Handschuhe, hohe, altmodische Zylinder, hier und da lugten sogar Dreispitze hervor, die deutlich aufs achtzehnte Jahrhundert verwiesen …
Es war ganz unglaublich.
Dies war ein unfassbarer Ort, herrlich.
Der Zug wurde langsamer und rollte im Schrittempo an dem Gros der Menschenmengen vorbei, hinüber zu einem Abschnitt des Gleiskörpers, wo die Massen nicht ganz so dicht standen.
Und dann sah Helen ihn .
Sah ihn und ließ ihn mit den Blicken nicht mehr los.
Helen Edwards´ Hände pressten sich fest gegen das kühle Glas des Abteilfensters, und ihr Verstand setzte einfach aus, die Tränen begannen einfach so zu fließen, ohne dass sie etwas zu tun vermochte. Kein Laut drang über ihre zitternden Lippen, während sie heulte, wie die kleine Victoria vorhin noch geheult hatte.
Die kompakte, kleine Gestalt eines rundlichen, gemütlichen Mannes mit schon ergrauten Augenbrauen und humorvoll glänzenden Augen. Er trug legere Freizeitkleidung, die so bekannte, unglaublich bekannte graue Cordhose und den zerrupften Pullover, über den Mutter immer geschimpft hatte, weil er damit derart schlampig aussah.
Helen entdeckte den so vertrauten buschigen Schnurrbart und merkte, wie die Augen des Mannes die ihren einfingen. Er lächelte.
Dann begann er zu winken.
Helen wischte sich hastig die Tränen ab und rieb die Augen sauber, so gut es ging. Dann winkte sie, erst zaghaft, schließlich aber immer stärker zurück. Gott, sie war so GLÜCKLICH! Dafür gab es keine Worte mehr!
„Kennst du da jemanden?“, fragte eine unsichere Stimme neben ihr.
Die Historikerin zuckte einen Augenblick lang zusammen, weil sie die Gegenwart des kleinen Mädchens völlig vergessen hatte, ganz überwältigt von dem Anblick, der sich ihr bot. Nun ging sie in die Hocke neben die junge Victoria und sagte, wenn auch nur mühsam beherrscht und ständig gegen weitere Tränen
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