Im Zweifel suedwaerts
im letzten Moment legte ich meine Hand darauf: »… wenn wir die Kassette wechseln dürfen.«
»Ich könnte auch einfach heimlich essen.«
»Aber das würdest du nicht tun.«
Sie sah mich abschätzend an, aber ich hielt ihrem Blick stand, bis sie zuerst woanders hinguckte. »Na gut.«
Ich nahm die Hand weg und drehte mich wieder nach vorn. »Betty?«
»Schon passiert!«
Es rauschte in den Boxen, und eine Sekunde später erfüllte schneller Ska den gelben Bus. Wir fuhren mit Tempo achtzig der Nacht entgegen. Es fühlte sich berauschend an.
5
Der Teil mit dem Gartenzwerg
BETTYS MIXTAPE
Sublime – Santeria
An der Raststätte roch es nach Benzin und Bockwürsten, und das ewige Brausen der A1 war so penetrant, dass ich mich fragte, ob es jemals verschwand, und wenn ja, ob ich es dann vermissen würde. Lucy verdrückte bei geöffneter Schiebetür bereits das fünfte Stück Torte in dreieinhalb Stunden, Betty betankte den Bus, und ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, dass wir mit dem Flugzeug inzwischen überall auf der Welt hätten sein können, am Strand von Honolulu, im ewigen Eis von Spitzbergen, am Kap der Guten Hoffnung. Überall. Mit dem Bus hatten wir es gerade mal bis an den Rand von Münster geschafft. Und wirklich: Hier gab es nichts zu sehen. Es musste einfach gesagt werden. Jetzt sofort.
»Wir hängen total hinterm Zeitplan.«
»Ah ba, ba!« Betty legte mir eine Hand auf den Mund, während sie mit der anderen weitertankte. »Daphne hat das böse Wort gesagt.«
Ich schob ihre Hand weg. »Ich dachte, ich darf nur die Wörter Urlaub und Zeitplan nicht in einem Satz verwenden.«
»Da wir uns aber im Urlaub befinden, Schätzelein, ist ja immer und überall Urlaub, und das schlimme Z-Wort ist komplett gestrichen. Ist doch klar.«
»Gut. Merk ich mir.«
»Schön.« Betty rüttelte ein bisschen am Zapfhahn und zog ihn aus der Tanköffnung.
»Nichtsdestotrotz …« Ich nahm ihren mahnenden Blick wahr, fuhr aber unbeirrt fort. »Es ist jetzt halb neun. Vielleicht sollten wir uns langsam mal überlegen, wo wir die Nacht verbringen wollen.«
»Na, ich fahr so lang, bis ich nicht mehr kann, dann halten wir an einer Raststätte, und dann wird geschlafen.«
Ich sah mich auf dem düsteren, asphaltierten Parkplatz vor der Tankstelle um, an der wir uns jetzt befanden, und hatte plötzlich schlimme Bilder im Kopf, von betrunkenen LKW -Fahrern und irren Triebtätern. »Gibt es keine Alternative?«
Betty zuckte mit den Schultern.
Im Bus rumorte es, und Lucy schaute zu uns heraus, die Finger klebrig von der süßen Tortenfüllung und am Mundwinkel ein kleines, pistaziengrünes Stückchen Marzipan. »Remscheid.« Betty und ich sahen sie verständnislos an. »Remscheid«, wiederholte sie. »Da wo ich herkomme. Das ist nicht weit von hier, hundert Kilometer oder so. Ich kann Mami anrufen und ihr sagen, dass sie den Hund wegsperren soll. Soll ich?«
»Den Hund?«
»Das wird super, ihr könnt in meinem Zimmer auf der Luftmatratze schlafen, dann machen wir eine richtige Pyjama-Party. Wir können auch Wahrheit oder Pflicht spielen, wenn ihr wollt. Oder Scharade.«
»Mal sehen …«, sagte ich gedehnt.
»Also, von mir aus fahren wir nach Remscheid. Kann man ja mal machen.« Betty drehte den Tankdeckel zu. »Ich war da noch nie.«
»Es ist gaaaaaanz toll!«
Bestimmt. Hoffentlich.
Lucys Elternhaus war von oben bis unten mit schwarzgrauen Schindeln bedeckt, ebenso die dazugehörige Garage. Es lag am Hang, sodass der Teil des Hauses, den man zunächst für einen Keller hielt, auf der Gartenseite das Erdgeschoss mit einer raumhohen Panoramascheibe zur Terrasse hin bildete. Aber das konnten wir bei unserer Ankunft natürlich noch nicht erkennen.
Es goss in Strömen, und nachdem Betty den Bus in der Auffahrt geparkt hatte, beeilten wir uns, so schnell wie möglich durch das kleine grüne Gartentor mit dem »Hier wache ich«-Schild und dem gepflegten Vorgarten zur Haustür zu gelangen. Dabei trat ich einen Gartenzwerg um, der mit lautem Scheppern gegen die Treppe zum Eingang rollte und zerbrach. Ich sammelte erschrocken die Bruchstücke auf, alle, die ich finden konnte, und wischte mir den Regen aus den Augen. Auf einer Skala von eins bis zehn, wobei eins super und zehn frustrierend war, verdiente dieser erste Urlaubstag eine zwölf.
»Purzelchen!«
»Papi!«
Ein ziemlich großer, ziemlich dicker Mann mit einem beeindruckenden Schnurrbart war im kleinkarierten Hemd in der offenen Tür erschienen und
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