Im Zweifel suedwaerts
Angebot hatte. Betty war anzusehen, dass sie im Begriff war, Lucys Mutter all ihre Vorurteile zu vergeben. Fleisch war der Schlüssel zu ihrem Herzen. Sie ließ einen kleinen Schrei der Begeisterung hören, als sie das Angebot sah, füllte ihren Teller bis zum Rand und aß mit großem Appetit und dem ihr ganz eigenen Mangel an Tischmanieren. Dass neben ihrem Teller auch Besteck bereitlag, ignorierte sie weitgehend. Unsere Gastgeber nahmen das mit einem dezenten Naserümpfen zur Kenntnis, verkniffen sich jedoch jeden Kommentar und konzentrierten sich stattdessen auf ihre heimgekehrte Tochter. Das Purzelchen. Das Mausezähnchen.
»Erzähl doch mal! Wie läuft es in der Firma?«, fragte Vater Kottkewicz, während er seine Brötchenhälfte konzentriert mit vier Scheiben Salami belegte.
»Hm.« Lucy kaute und schluckte und nickte. »Ganz gut.«
»Arbeitest du auch nicht zu viel?«
»Nein, Mami. Alles ist super.«
Wäre Monika Kottkewicz nicht die Frau und Mutter, die sie war, hätte sie diese Antwort gehört wie gegeben und zufrieden einfach noch ein paar Krümel von dem Tischtuch mit dem Obst-Muster gepflückt. Doch Monika Kottkewicz war Monika Kottkewicz, die Frau, deren feine Antennen sich sofort meldeten, wenn mit ihrer Tochter etwas nicht stimmte. Selbst dann noch, wenn man sie in einen unterirdischen Salzstock sperrte. Und wenn diese Antennen sich meldeten, dann galt es herauszufinden, was passiert war. Bevor dieses Ziel erreicht war, durfte Monika Kottkewicz nicht ruhen. Eher fror die Hölle zu. Es war also egal, ob Lucy sagte, dass alles super war. Ihre Mutter hatte bereits das Signal empfangen und wusste, dass dem nicht so war. »Ist sonst alles in Ordnung, Mausezähnchen?«
»Ja, Mami.«
»Ganz sicher?«
»Ja!« Lucy säbelte fahrig mit ihrem Messer an der Frikadelle auf ihrem Teller herum und schnitt ein viel zu großes Stück ab, das sie sich aber wohl oder übel in den Mund stopfen musste, wenn sie das Zittern ihrer Unterlippe rechtzeitig überspielen wollte.
»Purzelchen, nicht so hastig.«
»Mike, jetzt lass sie doch mal!« Monika Kottkewicz wollte nicht, dass hier vom Thema abgelenkt wurde. Sie hatte die Fährte aufgenommen wie ein Bluthund, und sie war siegessicher. »Und dein Hannes?«, fragte sie scheinheilig. »Wie geht es ihm?«
Damit war klar, dass Lucy ihre Eltern, aus welchen Grün den auch immer, noch nicht darüber informiert hatte, dass Hannes nicht mehr ihr Hannes war. Das wunderte mich. Eigentlich hätte ich erwartet, dass sie sofort, nachdem die Sache beendet gewesen war, zum Telefon gegriffen, ihre Mutter angerufen und sich in dem Mitleid gesuhlt hatte, das aus der Hörmuschel tropfte wie flüssiger Honig. Auf der anderen Seite war das vielleicht genau das Letzte, was man tat, wenn man überfürsorgliche Eltern wie Mike und Moni hatte. Das konnte ich nicht einschätzen, ich hatte mit überfürsorglichen Eltern keine Erfahrung. Wenn ich mal in Not war und mich dazu durchrang, meine Mutter anzurufen, empfahl die mir, Tee zu trinken, und ging dann zum Pilates.
Nicht so Monika Kottkewicz »Hm? Lucy? Mausezähnchen? Was ist denn los?«
Ihre Tochter steckte sich mit einer schnellen, in den langen Jahren einer schweren, traurigen Pubertät perfektionierten Bewegung eine komplette Frikadelle in den Mund, atmete stoßartig aus, soweit das noch möglich war, lehnte sich auf der Eckküchenbank zurück und stützte den Kopf an die getäfelte Wand. Tränen rannen ihr das Gesicht hinunter.
»Du meine Güte, was ist denn passiert?«
Schluchzer schüttelten Lucys Körper, während sie kaute und kaute und weinte. Ich warf Betty einen betretenen Blick zu, sie aber zuckte bloß mit den Schultern und schmierte sich ein Leberwurstbrot. Der Abend war eh gelaufen, da konnte man genauso gut weiteressen.
Ich vermied es, Lucy anzusehen. Ich fühlte mich fehl am Platz. In jedem anderen Moment hätte ich sie mit allen Tricks, die mir zur Verfügung standen, zu trösten versucht. Aber ich wusste, hier und jetzt würden mich Mike und Moni nicht in die Nähe ihres Nachwuchses lassen. Sie würden sie verteidigen wie zwei Stockenten ihre Küken. Und außerdem hasste Vater Kottkewicz mich sowieso, nach allem, was ich seinem Gießkannenzwerg angetan hatte, das merkte ich daran, wie er mich zwischendurch immer ansah.
»Ist Hannes krank?«, fragte Monika Kottkewicz. Dabei hatte sie die Situation längst erfasst.
»Wir sind nicht mehr zusammen!«, platzte es aus Lucy heraus, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich
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