Im Zwielicht der Gefühle (German Edition)
an die zwanzig Pfund, und dennoch trug Ranulf es mit einer Selbstverständlichkeit, die Kasim traurig stimmte. Ich kann nicht länger bleiben. Kasim wusste nur zu gut, was diese Worte bedeuteten.
„Sind sie hier?“
Ranulf schüttelte den Kopf. „Noch nicht, aber bald. Wie ich hörte, sind die de la Chacres auf dem Weg zu uns. Wie immer eilt ihnen ihr übler Ruf voraus.“ Kasim nickte verstehend. „Dann werden wir Ägypten also verlassen?“
„Es gibt kein ‚wir’, verdammt noch mal!“, brauste Ranulf auf. „Du wirst zu deinem Stamm zurückkehren und mir nicht länger auf die Nerven fallen. Haben wir uns verstanden?“
„Sei friedlich, mein Freund“, gab Kasim ungerührt zurück. In den drei Jahren, die sie nun schon gemeinsam durchs Land zogen, hatte er hunderte solcher Temperamentsausbrüche erlebt.
„Ich weiß um deine Zuneigung mir gegenüber. Du brauchst nicht jedes Mal wie eine angriffslustige Kobra zu zischen, wenn du meiner ansichtig wirst. Schließlich bin ich Kasim Mohammed Abdallah el Raschid. Schön wie die Morgensonne, weise wie das Firmament...“
„Und nervtötend wie eine Schar kichernder Waschweiber“, unterbrach Ranulf ihn schroff; dennoch zuckte es verdächtig um seine Mundwinkel. „Wirst du eigentlich nie müde, diese Lobesreden auf dich selbst zu singen?“ „Nein, niemals.“
Da Ranulf wusste, dass Kasim nur schwer zu bremsen war, wenn er erst einmal damit begonnen hatte, die eigene Herrlichkeit zu preisen, wechselte er rasch das Thema.
„Wie geht es Lord Lamont?“
Sogleich verschwand das Grinsen aus Kasims wohlgestalteten, dunklen Gesichtszügen. „Allah war ihm gnädig. Der Schotte lebt. Doch er ist nur noch ein Schatten seiner selbst.“ Seine Stirn legte sich nachdenklich in Falten. „Ist dir eigentlich bewusst, dass wir nun vor einem schwer wiegenden Problem stehen?“
Als Ranulf fragend eine Augenbraue hob, erklärte er geduldig: „Der Schotte hat dir das Leben gerettet. Nach dem Gesetz meines Landes gehörst du nun ihm. Was jedoch nicht geht, weil ich bereits die Verantwortung für dich trage.“
„Ich habe weder dich noch Lord Lamont um Hilfe gebeten“, knurrte Ranulf ärgerlich.
Kasim nickte bedächtig und legte sich die Hand auf die Brust. „Dennoch hast du sie erhalten, und obwohl dein mürrisches Wesen oft eine harte Probe für meine Geduld darstellt, werde ich bei dir bleiben, bis meine Aufgabe erfüllt ist.“
„Verschone mich mit diesem Unsinn“, knurrte Ranulf ungeduldig und deutete mit dem Kopf auf das Zelt der Verletzten. „Kann ich zu ihm?“
„Er hat bereits nach dir gefragt.“ Kasim zog die Stirn kraus. „Und sei umgänglich! Der Schotte hat heute genug gelitten, sodass du ihm mit deinem finsteren Gesicht nicht noch mehr zusetzen musst.“
Ranulf würdigte ihn keiner Antwort. Er war immer umgänglich – wenn er es darauf anlegte.
Mit ausholenden Schritten ging er auf das Zelt zu und schob die Klappe bei Seite. Der üble Gestank von Blut und verbranntem Fleisch schlug ihm wie eine geballte Faust entgegen. Hier lagen an die dreißig verwundete Soldaten, Pritsche an Pritsche zusammengepfercht. Unterdrücktes Stöhnen erfüllte den von wenigen Fackeln erhellten Raum.
Ranulfs Augen blieben an Lord James Lamont hängen, dem gerade ein neuer Verband anlegt wurde. Seine Brust zog sich schmerzlich zusammen. Kasim hatte Recht. Der vor Kraft strotzende Schotte mit dem feuerroten Haar und dem buschigen Bart war innerhalb weniger Stunden zu einem Schatten seiner selbst geschrumpft. Schmerz und Blutverlust ließen ihn blass und schwächlich erscheinen.
Ranulf versuchte, die Schuldgefühle niederzukämpfen, als er den Armstumpf des Lords betrachtete. Verdammt, er hatte ihn nicht um Hilfe gebeten! Es war nicht seine Schuld, dass der Schotte sich in einen Kampf eingemischt hatte, der ihn nichts anging!
Trotzdem hatte er es getan. Ranulf war von sechs Säbel schwingenden Damiette-Soldaten gleichzeitig angegriffen worden. James Lamont hatte dies wohl gesehen und sich zu ihm durchgekämpft, um ihm beizustehen. Der Schwerthieb, der ihm den Arm abgetrennt hatte, war eigentlich für Ranulfs Kopf bestimmt gewesen.
Die Schuldgefühle brannten sich immer tiefer in Ranulfs Eingeweide. Er konnte sich noch gut an das erste Zusammentreffen mit dem Schotten erinnern. Rücken an Rücken hatten sie ihre Feinde bekämpft, bis keiner mehr übrig geblieben war. Danach hatte sich James Lamont lachend zu ihm umgedreht und ihm die Hand gereicht. „Verdammt,
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