Im Zwielicht der Gefühle (German Edition)
blickte wissend in die Runde. „Oder weshalb kämpfen wir immer in seiner schützenden Nähe? Liegt es nicht daran, dass er jedem von uns schon mehrere Male das Leben gerettet hat? Deine Kopfverletzung wäre mit Sicherheit nicht so glimpflich verlaufen, wenn er nicht eingegriffen hätte.“
Betretenes Schweigen legte sich über die kleine Gruppe, denn jeder erkannte die Wahrheit in diesen Worten.
„Dennoch, ich bleibe dabei!“, beschied der Soldat mit der Kopfbinde eigensinnig. „Ein Hüne, der sein Schwert ‚Zorn’ nennt, ist mir ganz und gar nicht geheuer.“
In einiger Entfernung stand Ranulf de Bretaux, Gegenstand dieser Unterhaltung, unter einer einsamen Palme und spähte nachdenklich in die Dunkelheit. Sein von der Wüstensonne goldgelb gebleichtes Haar schimmerte matt im Mondlicht, während sein kampfgestählter Körper von den Schatten der Nacht verschlungen wurde.
Er hatte sich zurückgezogen - wie immer. Er bevorzugte die Abgeschiedenheit und mied die ermüdenden Gespräche an den Lagerfeuern. Es widerstrebte ihm zutiefst, den prahlerischen Geschichten der Soldaten zuzuhören. Die Schlacht war geschlagen. Was geschehen war, war geschehen.
Obwohl Ranulf zeit seines Lebens ein Krieger gewesen war, sah er keinen Grund, weshalb man sich mit getöteten Opfern brüsten sollte. Erst recht nicht auf einem heiligen Kreuzzug!
Angewidert schüttelte er den Kopf. Die Soldaten und selbst die Priester des Lagers freuten sich über diesen Sieg, den sie angeblich im Namen Gottes errungen hatten. Welch ein Unsinn! Ein Krieg konnte niemals heilig sein. Aber was wusste er schon? Längst glaubte er nicht mehr an die Existenz eines göttlichen Wesens.
In einer Angelegenheit hatten die Soldaten allerdings Recht. Er hatte seine Seele tatsächlich dem Teufel verkauft - vor Jahren schon, unwissentlich und doch unwiderruflich.
Ranulf hob sein Gesicht dem Mond entgegen und atmete tief durch. Nicht aus Überzeugung hatte er an diesem Kreuzzug teilgenommen, sondern aus persönlichen Gründen. Es war einfach leichter, sich in eine Schlacht zu stürzen, als tatenlos auf den sicheren Tod zu warten.
Sein Blick glitt erneut zu dem jungen Soldaten, der in der Dunkelheit kauerte und den Leichnam des Vaters fest umklammert hielt. Niemand hatte den trauernden Jüngling dazu bewegen können, den leblosen Körper frei zu geben, damit man ihn beerdigen konnte. Seit Stunden schon hielt er ihn weinend in den Armen und ergab sich seinem Schmerz.
Ranulf wandte den Kopf ab und schämte sich für das dumpfe Gefühl von Neid. Er hätte alles darum gegeben, wenn er jemals um einen Vater oder eine Mutter hätte trauern können. Doch er hatte nie eine Familie besessen. Er war in den engen, schmutzigen Straßen von Paris aufgewachsen, ohne jemals zu erfahren, wer seine leiblichen Eltern waren.
„Die Soldaten reden über dich, mein Freund“, erklärte Kasim, der lautlos an ihn herangetreten war.
„Tun sie das nicht immer?“
„Willst du nicht wissen, was sie über dich sagen?“
„Nein.“
„Es ist aber höchst aufschlussreich.“
„Nicht für mich.“
Der junge Syrer seufzte theatralisch. „Mir scheint, du bist heute noch einsilbiger als sonst.“
„Dann verschwinde. Lass mich allein!“
Kasim schüttelte betrübt den Kopf. „Das ist nicht nötig. Inmitten all dieser Soldaten bist du der einsamste Mensch, der mir jemals begegnet ist.“
Ranulf gab keine Antwort, sondern hielt seinen Blick fest auf die silberne Kugel des Mondes gerichtet.
Mit jedem Herzschlag spürte er, wie sich die dumpfe Leere in seiner Brust weiter ausbreitete. Er war tatsächlich einsam, und an diesem Abend spürte er es mit einer solch vernichtenden Intensität, dass es ihm beinahe körperlichen Schmerz bereitete. Er hasste diese Einsamkeit, die ihn wie kalte Nebelschwaden umrankte und ihn immer tiefer in ihren schwarzen Schlund hinabzog. Manchmal, so wie jetzt, drohte sie ihn gnadenlos in ihrer eisigen Umarmung zu ersticken.
Dennoch wusste Ranulf, dass eben diese Einsamkeit sein Element war. Sie war sein Schicksal. Er hatte sie bewusst gewählt und damit einen wirkungsvollen Schutzwall um sein Herz errichtet. Dies war die einzige Möglichkeit, andere Menschen vor seiner Nähe zu schützen...
Kasim trat neben ihn und starrte ebenfalls in die Dunkelheit.
„Du bist enttäuscht, weil du die Schlacht überlebt hast.“
Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
Ranulf schwieg so lange, bis Kasim glaubte, keine Antwort mehr zu erhalten. Doch
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