Im Zwiespalt der Gefuehle
empfindsamer Mann, trat vor. »Sollen wir die Wagen durchfahren, Sire» Sonst ändern diese Dummköpfe noch ihre Meinung und halten Euch für einen Dämon! «
Rowan lachte. Doch noch ehe er antworten konnte, sprang Xante hoch und funkelte Watelin an.
»Er ist unser Prinz«, fauchte Xante. »Unser lankonischer Prinz! Wir werden die Wagen hineinfahren! « Xante drehte sich um und rief Befehle zu der Menge hinüber.
Rowan zuckte mit den Achseln. Als er sein Pferd bestieg, lächelte er Lora zu. »Es scheint so, als ob das Öffnen eines rostigen Tores genau das Richtige war. Sollen wir jetzt unser Heim betreten, liebe Schwester? «
» Prinzessin , wenn es Euch nichts ausmacht«, erwiderte Lora lachend.
Innerhalb der Mauern standen die Wachen schweigend, mit gesenkten Köpfen da, als Rowan und Lora an ihnen vorüberritten. Rowan blickte forschend in jedes Gesicht, weil er hoffte, Jura zu entdecken. Aber sie war nicht zu sehen.
Vor der Festung half Rowan Lora vom Pferd. »Gehen wir jetzt zu unserem Vater? « fragte er. Lora nickte.
4. Kapitel
Jura war die einzige, die sich auf dem großen Übungsplatz aufhielt. An den Seiten standen Zielvorrichtungen für das Lanzenwerfen und Bogenschießen. Dazu kamen noch abgesteckte Felder für die Ringer, eine Laufbahn und Hindernisse, um das Springvermögen zu trainieren. Wenn sich nur eine einzige Person wie jetzt auf dem Platz aufhielt, wirkte er riesengroß. Die anderen Gardistinnen waren in die Hauptstadt geeilt, als sich die Nachricht verbreitet hatte, daß der neue Prinz bald eintreffen würde.
»Prinz! Ha! « murrte Jura. Sie visierte mit ihrem Wurfspeer die Zielscheibe an, warf und traf sie genau in der Mitte. Er war Engländer, und er wollte den Thron, der rechtmäßig ihrem Bruder zustand. Jura fand Befriedigung in dem Gedanken, daß ganz Lankonien ihrer Meinung war. Wenigstens einmal waren sich alle Stämme einig: Die ser Engländer war genausowenig ihr Herrscher wie der englische König Edward.
Als sie hinter sich ein Geräusch wahrnahm, wirbelte sie mit gezücktem Speer herum. Die Speerspitze zielte auf Daires Kehle.
»Zu spät«, meinte er lächelnd. »Ich hätte dich schon am Rand des Übungsplatzes mit einem Bogen erledigen können. Du solltest dich nicht ohne Wachen hier aufhalten! Ganz allein! «
»Daire! O Daire«, rief sie und schlang ihre Arme um seinen Hals. »Ich habe dich so sehr vermißt! Wie hast du mir gefehlt! « Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als ihn zu berühren, zu halten, zu küssen — alles nur, um die Erinnerung an den Mann am Fluß zu verdrängen… In der letzten Nacht war sie schweißgebadet erwacht, und ihr einziger Gedanke hatte diesem Fremden gegolten! Einen Mann, den sie noch nie in ihrem Leben gesehen hatte! Wahrscheinlich war er Bauer, der im Wald Holz geschlagen hatte und auf dem Weg zu seiner Frau und seinen Kindern gewesen war… »Küß mich«, bat sie.
Daire erfüllte ihren Wunsch — doch der Kuß ähnelte nicht im entferntesten dem Kuß des Mannes im Wald… Sie fühlte kein brennendes Verlangen, keine unermeßliche Begierde. Jura öffnete unter Daires Lippen ihren Mund und bot ihm ihre Zunge.
Daire zog sich stimrunzelnd zurück. Er war ein gutaussehender Mann mit dunklen Augen und hohen Wangenknochen — aber er war längst nicht so hinreißend schön wie der Unbekannte.
»Was ist los? « fragte Daire rauh.
Jura drehte sich zur Seite, um ihr schamrotes Gesicht zu verbergen. Sie hatte Angst, er könnte erraten, was sie dachte. »Du hast mir gefehlt. Das ist alles. Ist es einer Frau denn nicht erlaubt, den Mann, der ihr versprochen ist, mit Begeisterung zu begrüßen? « Daire schwieg so lange, daß sie sich wieder zu ihm umdrehte. Sie waren zusam men aufgewachsen. Daire gehörte dem Stamm der Vatell an. Auf einem von Thals Raubzügen war Juras Vater von Daires Vater getötet worden. Als Thal daraufhin Daires Vater getötet hatte, war der damals zwölfjährige Daire mit einem Stein und einer abgebrochenen Lanze auf Thal losgegangen. Thal hatte den Jungen vor sich auf den Sattel geworfen und ihn mit nach Escalon genommen. Weil Juras Mutter zwei Wochen vorher ebenfalls gestorben war, hatte Thal seinen Sohn Geralt und Jura zu sich genommen, um die drei Kinder gemeinsam großzuziehen. Jura war damals erst fünf Jahre alt gewesen. Sie hatte sich verloren und einsam gefühlt durch den Verlust ihrer Eltern. Daher hatte sie sich bald an den großen, ruhigen Daire angeschlossen. Diese Bindung war im Laufe der Zeit immer
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