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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Beobachters: ein Liebespaar auf der Suche nach einem Ort, wo es ungestört sein konnte.
    Jenseits der Barriere erwartete Judith ein offenes Panorama, das einst tatsächlich sehenswert gewesen sein mochte. Aber zweihundert Jahre Gleichgültigkeit und Vernachlässigung hatten Symmetrie zu Chaos werden lassen, einen Park in dichten Dschungel verwandelt. Einzelne Baumgruppen, die früher angenehmen Schatten hatten spenden sollen, waren im Lauf der Zeit zu einem regelrechten Wald
    zusammengewachsen. Gestrüpp bedeckte vormals perfekten Rasen. Einige andere Repräsentanten des englischen Landadels hatten ihre Anwesen aufgrund finanzieller Probleme zu Safariparks umfunktioniert und die Fauna des verlorenen Empire importiert, auf daß sie dort wandelte, wo in besseren Zeiten Rotwild gegrast hatte. Judith fand keinen Gefallen daran. Solche Parks wirkten zu gepflegt, und hinzu kam: Eichen und Ahorne bildeten kaum einen geeigneten Hintergrund für Löwen und Paviane. Aber hier... In dieser Wildnis konnte man sich auf der Lauer liegende Raubtiere vorstellen. Sie kam einer völlig fremden Landschaft gleich, und eine Zeitlang gab sich Judith dem verwirrenden Gefühl hin, überhaupt nicht mehr in England zu sein.
    Es war ein weiter Weg bis zum Haus, doch Estabrook zögerte nicht und schlug immer wieder mit dem Stock zu. Skin begleitete ihn als eine Art Scout. Was treibt Charlie so sehr an? überlegte Judith. Vielleicht Erinnerungen an seine Kindheit? Oder Visionen von der glanzvollen Epoche dieses Landsitzes, als der breite Pfad noch aus Kies bestand, als sich im Haus die Reichen und Mächtigen versammelten?
    »Bist du als Kind oft an diesem Ort gewesen?« frage Jude, während sie durchs hohe Gras stapften.
    Estabrook sah sich so erstaunt zu ihr um, als hätte er sie ganz vergessen.
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    »Nein, nicht sehr oft«, sagte er. »Aber es hat mir hier sehr gefallen. Das Gelände war wie ein großer Spielplatz für mich.
    Später wollte ich alles verkaufen, doch Oscar lehnte ab.
    Natürlich aus gutem Grund...«
    »Aus welchem Grund?« fragte Judith wie beiläufig.
    »Eigentlich bin ich froh, daß wir uns nicht mehr um dieses Anwesen gekümmert haben. Jetzt scheint mir hier alles viel hübscher.«
    Charlie ging weiter, er schwang den Ast wie eine Machete.
    Als die Entfernung zum Haus schrumpfte, sah Judith, daß es sich in einem erbärmlichen Zustand befand. Fenster ohne Glas, das Dach nur noch ein Gitterwerk aus Balken, schief in den Angeln hängende Türen. Bei einem normalen Gebäude wirkte so etwas traurig genug, doch bei einem ehemaligen Prachtbau kam es einer Tragödie gleich. Sonnenschein filterte durch dünner werdende Wolken und glänzte heller, als sie das Portal passierten; er schimmerte durchs Balkengitter weiter oben und projizierte ein geometrisches Muster auf den Boden. Die mit Schutt bedeckte Treppe führte noch immer in einem weiten, anmutigen Bogen zu einer kleinen Plattform, hinter der sich ein Fenster öffnete, wie es einer Kathedrale gebührte. Ein vor vielen Wintern umgestürzter Baum hatte es zertrümmert, und seine leblosen Gliedmaßen ruhten dort, wo einst der Lord und die Lady gestanden hatten, bevor sie sich in den Saal begaben, um ihre Gäste zu begrüßen. Die Wandvertäfelung in der Halle und in den Fluren allerdings wirkte fast unberührt, und es fehlte nicht eine einzige Bodenfliese. Abgesehen vom Dach erweckte das Haus noch immer einen stabilen, massiven Eindruck. Es war errichtet worden, um den Godolphins für ewig zu dienen - die Fruchtbarkeit von Land und Leib sollte den Namen des Geschlechts erhalten, bis die Sonne endgültig erlosch. Das Fleisch hatte dieses Gebäude im Stich gelassen, nicht umgekehrt.
    Estabrook und Skin schritten in Richtung Eßzimmer, das so 316

    groß war wie ein Restaurantsaal. Judith folgte ihnen einige Meter weit, bevor sie sich der Treppe zuwandte. Die Blütezeit dieser Architektur kannte sie nur aus Filmen, Büchern und Fernsehen, aber ihre Fantasie nahm die Herausforderung begeistert an und malte wundervolle Gedankenbilder, um die eher enttäuschende Realität durch imaginäre Pracht zu ersetzen. Während sie eine Stufe nach der anderen hinter sich brachte und nicht ohne einen Hauch Schuldbewußtsein von Aristokratie träumte, sah sie im Geist einen von Kerzen erleuchteten Saal, hörte lachende Stimmen und das leise Rascheln, mit dem die Seide ihres Gewands über den dicken Teppich strich. Jemand rief sie von einer Tür her, und Judith drehte sich um, sie rechnete damit,

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