Imagica
lehnte er den Namen seiner Vorfahren ab, doch ihr Blut floß in seinen Adern. Jene Drosseln, die draußen in den Bäumen sangen - sie ähnelten den Vögeln, die dort gezwitschert hatten, als die Äste noch dünne Zweige gewesen waren; sie gehörten zu diesem Ort. Judith hingegen fühlte sich plötzlich ohne Orientierung; sie ähnelte niemandem, nicht einmal der Frau, die sie vor nur sechs Wochen gewesen war.
»Sei nicht nervös«, sagte Charlie und winkte sie herein.
Er sprach zu laut für diesen Ort; seine Stimme hallte durch die Leere, verursachte ein dumpfes Echo, doch er achtete nicht darauf. Vielleicht basierte seine ruhige Gleichgültigkeit auf dem Umstand, daß er diesen Ort gut kannte. Außerdem hatte er zwar behauptet, Verständnis für das Geheimnisvolle zu haben, doch blieb Charles ein Pragmatiker, auf das Sachbezogene fixiert. Welche Kräfte auch immer sich hier auswirkten - er nahm ihre Präsenz nicht zur Kenntnis.
Jude hatte die Zuflucht zunächst für fensterlos gehalten, 322
doch das stellte sich nun als Irrtum heraus. Wo sich Wand und Kuppel trafen, sah sie einen Ring aus Fensteröffnungen, wie einen Heiligenschein am Schädel dieser Kapelle. Sie waren klein, ließen jedoch genug Licht passieren, um das Innere des Gebäudes ausreichend zu erhellen. Der Glanz des Sonnenscheins filterte nun durch sie, berührte den Boden und glitt über das Mosaikmuster. Wenn dieses Bauwerk tatsächlich einer Art Bahnhof gleichkam, so stellte das Mosaik sein Zentrum dar.
»Es ist nichts Besonderes, oder?« fragte Charlie.
Judith wollte widersprechen und suchte nach einer Möglichkeit, ihre Empfindungen zum Ausdruck zu bringen, als draußen Skin bellte. Es war nicht das aufgeregte Bellen, das sie unterwegs häufig von ihm gehört hatte; diesmal glaubte sie, darin eine Mischung aus Zorn und Furcht zu vernehmen. Jude wandte sich der Tür zu, aber die Aura der Kapelle verzögerte ihre Reaktion. Estabrook war nach draußen geeilt, bevor sie den Ausgang erreichte, und fordete den Hund auf, still zu sein.
Das Bellen endete abrupt.
»Charlie?« fragte sie.
Er antwortete nicht. Als auch Skin keinen Ton mehr von sich gab, fiel Judith eine seltsame, alles umfassende Stille auf.
Vergeblich lauschte sie nach dem Zwitschern der Vögel.
»Charlie?« fragte sie erneut, und eine Sekunde später erschien jemand in der Tür. Es handelte sich nicht um Estabrook. Dieser Mann, korpulent und bärtig, war ein Fremder. Doch irgend etwas in Jude erkannte ihn wieder, wie einen vertrauten Gefährten. Vielleicht hätte sie dieses sonderbare Gefühl für absurd gehalten, doch es spiegelte sich auch in den Zügen des Mannes wider. Er musterte sie aus zusammengekniffenen Augen und neigte dabei ein wenig den Kopf zur Seite.
»Sie sind Judith?«
»Ja. Und wer sind Sie?«
323
»Oscar Godolphin.«
Jude ließ den unwillkürlich angehaltenen Atem entweichen und seufzte tief. »Oh, dem Himmel sei Dank«, brachte sie hervor. »Sie haben mir einen gehörigen Schrecken eingejagt.
Ich dachte... Meine Güte, ich weiß gar nicht, was ich dachte.
Hat der Hund Sie belästigt?«
»Vergessen Sie den Köter«, sagte Oscar und betrat die Kapelle. »Sind wir uns schon einmal begegnet?«
»Ich glaube nicht. Haben Sie Charlie gesehen? Ist alles in Ordnung mit ihm?«
Godolphin kam mit gleichmäßigen Schritten näher.
»Dadurch wird's komplizierter«, sagte er.
»Was meinen Sie?«
»Ich kenne Sie. Und Sie sind... was auch immer. Das bringt alles durcheinander.«
»Warum denn?« erwiderte Judith. »Ich wollte Ihnen begegnen und habe Charlie mehrmals gebeten, uns bekannt zu machen, aber aus irgendwelchen Gründen war er nie dazu bereit...« Sie sprach nicht nur um der Kommunikation willen; der Wortschwall half ihr dabei, Godolphins durchdringenden Blick besser zu ertragen. Wenn sie jetzt schwieg... Sie fürchtete, sich dadurch zu verlieren, sich diesem Mann auszuliefern. »Es freut mich, daß wir endlich Gelegenheit bekommen, miteinander zu reden.« Oscar blieb dicht vor ihr stehen, und sie streckte eine zitternde Hand aus. »Es ist mir wirklich ein Vergnügen.«
Draußen bellte erneut der Hund, und kurz darauf erklang ein Schrei.
»O Gott, er hat jemanden gebissen«, sagte Judith und wollte zur Tür eilen.
Godolphin hielt sie am Arm fest. Seine Finger übten kaum Druck aus, aber es war trotzdem eine Geste, die Besitz von ihr ergriff und sie veranlaßte, sofort zu verharren. Als sie ihn ansah, schienen alle romantischen Klischees ernste
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