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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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ernstere oder frostigere Abschiedsworte gehört. Er zögerte, wollte irgendwie Trost spenden oder sich entschuldigen, aber angesichts einer solchen Verheerung schien nur Schweigen angemessen zu sein. Er deutete eine Verbeugung an, wandte sich von Tasko ab - der nun die Bürde eines Zeugen tragen mußte - und schritt über die Straße, vorbei an dem Leichenhaufen, zurück zu Pie'oh'pah.
    Der Mystif hatte sich nicht von der Stelle gerührt und blieb auch reglos, als Gentle ihn erreichte und fragte, ob sie nun in die Berge zurückkehren sollten.
    »Wir hätten nicht noch einmal hierherkommen dürfen«, sagte Pie schließlich.
    »An jedem Tag, den wir vergeuden, kann sich so etwas wiederholen...«
    »Bist du etwa in der Lage, derartiges Unheil zu verhindern?«
    erwiderte der Mystif. Ein Hauch Sarkasmus erklang in seiner Stimme.
    »Wir nehmen nicht etwa den Umweg, sondern reiten über den Hohen Paß. Dadurch sparen wir drei Wochen.«
    »Das ist tatsächlich der Fall, nicht wahr?« brummte Pie. »Du glaubst wirklich, das Entsetzen beenden zu können.«
    »Wir sterben nicht«, sagte Gentle. Er legte Pie den Arm um die Schultern. »Ich lasse nicht zu, daß wir sterben. Ich habe dich hierher begleitet, um zu verstehen.«
    »Wieviel zusätzlichen Schrecken kannst du ertragen?«
    »Noch eine ganze Menge, wenn's sein muß.«
    »Vielleicht wird es erforderlich, daß ich dich daran erinnere.«
    »Ich erinnere mich selbst daran«, sagte Gentle. »Von jetzt an erinnere ich mich an alles.«
    310

KAPITEL 21
l
    Die sogenannte ›Zuflucht‹ des Godolphin-Anwesens war in einer Epoche der Torheit errichtet worden, als sich die ältesten Söhne der Reichen und Mächtigen keinen Kriegen widmen konnten und das in vielen Generationen angesammelte Vermögen für die Konstruktion von egozentrischen Prachtbauten verwendeten. Viele Beispiele dieses gestaltgewordenen Wahnsinns ignorierten selbst die grundlegenden Prinzipien der Architektur und zerfielen noch vor ihren Erbauern zu Staub. Doch andere waren selbst in einem vernachlässigten Zustand beachtenswert - weil dort eine Berühmtheit gewohnt oder weil das Gebäude als Schauplatz eines Dramas gedient hatte. Die Zuflucht fiel in beide Kategorien. Ihr Architekt Geoffrey Light war sechs Monate nach der Fertigstellung des Bauwerks gestorben: In der Wildnis von West Riding erstickte er an einem Ochsenziemer, und dieser groteske Umstand erregte eine Menge Aufmerksamkeit.
    Ein ähnlich stark ausgeprägtes öffentliches Interesse galt seinem Auftraggeber Lord Joshua Godolphin, als er sich in den Ruhestand zurückzog. Schon seit Jahren munkelte man, daß er allmählich den Verstand verlor, und selbst in seiner besten Zeit geriet er häufig ins Gerede, weil er viel Zeit in Gesellschaft von Magiern verbrachte. Cagliostro, der Comte de Saint-Germain, und sogar Casanova (ein begabter Thaumaturge) hatten das Anwesen ebenso besucht wie andere, weniger bekannte Alchimisten.
    Seine Lordschaft machte nie ein Geheimnis aus seiner Neigung zum Okkulten, doch es blieb verborgen, worum es ihm dabei wirklich ging. Man nahm an, daß er die Gesellschaft der Scharlatane und Quacksalber allein wegen ihres 311

    Unterhaltungswertes mochte. Was auch immer seine Gründe gewesen waren: Der Umstand, daß er sich so plötzlich zurückzog, rückte den von Light konstruierten Prachtbau ins Zentrum des öffentlichen Interesses. Ein Tagebuch, das angeblich dem erstickten Architekten gehörte, wurde ein Jahr nach seinem Tod publiziert und erzählte vom Bau der Zuflucht.
    Ob die Details tatsächlich aus Lights Feder stammten oder nicht: sie boten recht exotischen Lesestoff. Das Fundament war angeblich im Licht von Sternen gelegt worden, die eine besonders günstige Konstellation bildeten. Die Steinmetze wählte man in mehreren Städten aus, und sie mußten sich mit einem arabischen Schwur, der gräßliche Strafen in Aussicht stellte, zum Schweigen verpflichten. Jeder einzelne Stein wurde in eine Mischung aus Milch und Weihrauch getaucht.
    Als das Gebäude halb fertiggestellt war, ließ man ein Lamm dreimal darin umherwandern - anschließend wählte man jene Stelle für Altar und Taufbecken, wo zuvor der unschuldige Kopf des Tiers geruht hatte.
    Ständig wiederholte Erzählungen blieben nicht ohne Einfluß auf diese Einzelheiten, und schon bald sprach man dem Gebäude satanische Zwecke zu. Angeblich waren die Steine mit Babyblut gesalbt worden, und das Grab eines tollwütigen Hundes markierte den Ort, wo der Altar stand. Hinter den

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