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hohen Mauern seines Sanktuariums erfuhr Lord Godolphin vielleicht gar nichts von diesen Gerüchten - bis es zwei Jahre nach seinem Rückzug ins Privatleben zu einem Zwischenfall kam. Im September brauchten die Einwohner von Yoke (ein Dorf in der Nähe des Anwesens) einen Sündenbock für die schlechte Ernte. Von der Kirchenkanzel geschleuderte Hesekiel-Zitate sorgten für die richtige Stimmung, und am Nachmittag begann die Gemeinde mit einem Kreuzzug gegen das Teuflische. Sie drang auf das Anwesen vor, um die Zuflucht dem Erdboden gleichzumachen, mußte dort jedoch eine Enttäuschung hinnehmen: Nirgends fanden sich die von den 312
Gerüchten versprochenen Blasphemien. Keine umgekehrten Kreuze. Kein mit Jungfrauenblut befleckter Altar. Aber da die aufgebrachten Streiter für alles Fromme nicht tatenlos nach Hause zurückkehren wollten, richteten sie möglichst viel Schaden an und entzündeten ein Feuer auf dem großen Bodenmosaik. Die Flammen schwärzten jedoch nur Decke und Wände und bemühten sich vergeblich, das Gebäude in Schutt und Asche zu legen. Doch an jenem Nachmittag bekam die Zuflucht ihren Spitznamen: die Schwarze Kapelle, beziehungsweise Godolphins Sünde.
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Wenn Judith der historische Hintergrund von Yoke bekannt gewesen wäre, hätte sie vielleicht nach Anzeichen dafür Ausschau gehalten, als sie durch den Ort fuhr. Auf den ersten Blick betrachtet schien alles völlig normal zu sein, doch wer genauer hinsah, entdeckte subtile Hinweise. Bei kaum einem Haus fehlte ein Kreuz im Deckstein über der Tür oder ein in die Schwelle eingelassenes Hufeisen. Die Grabsteine auf dem Friedhof zeigten Inschriften, die Gott baten, den Teufel von den Lebenden fernzuhalten, während er die Seelen der Toten zu sich nahm. Die Mitteilungstafel neben dem Kirchentor wies darauf hin, daß es bei der Predigt am nächsten Sonntag um
›Das Lamm in unserem Leben‹ gehen würde - ein weiterer Kontrast zum Ziegenbock des Diabolischen.
Doch Judith sah nichts davon. Ihre Aufmerksamkeit wurde von der Straße und von dem Mann an ihrer Seite beansprucht, zum Teil auch von dem Hund, der im Fond hockte und gelegentlich einige Worte des Trostes brauchte. Ein plötzlicher Einfall hatte sie veranlaßt, Estabrook zu bitten, sie hierherzubringen, und dahinter steckte eine unerschütterliche Logik: Sie bot ihm Freiheit für einen Tag, holte ihn aus der muffigen Hitze der Klinik hinaus in die kühle, frische Januarluft. Jude hoffte, daß er hier draußen offener über seine 313
Familie sprechen würde, insbesondere über seinen Bruder. Gab es einen besseren Ort, um sich nach den Godolphins und ihrer Geschichte zu erkundigen, als auf dem Anwesen mit jenen Gebäuden, die Charlies Ahnen der Nachwelt hinterlassen hatten?
Die entsprechenden Ländereien erstreckten sich knapp einen Kilometer hinter dem Dorf zu beiden Seiten einer privaten Straße. Der Weg führte zu einem Tor, das selbst jetzt im Winter von einem Heer aus Büschen und Kletterpflanzen belagert wurde. Die beiden einstigen Torflügel existierten längst nicht mehr und waren durch eine weniger elegant anmutende Barriere ersetzt worden: Bretter und Wellblech, gekrönt von Stacheldraht, doch hatten die Stürme im Dezember einen großen Teil dieser Barrikade beiseite geräumt. Sie parkten den Wagen am Straßenrand, und als sie sich anschlie-
ßend in Begleitung des glücklich bellenden Skin dem Tor näherten, stellte sich bald heraus: Wenn sie bereit waren, es mit Dornen und Brennesseln aufzunehmen, sollte es nicht weiter schwer sein, die zentralen Bereiche des Anwesens zu erreichen.
»Was für ein trauriger Anblick«, kommentierte Judith.
»Früher muß es hier wunderschön gewesen sein.«
»Nicht zu meiner Zeit«, erwiderte Estabrook.
»Soll ich eine Schneise für uns schaffen?« Sie griff nach einem Ast und brach kleinere Zweige von ihm ab.
»Nein, überlaß das mir.« Charles nahm den Ast und schlug damit erbarmungslos auf die Brennesseln ein.
Judith folgte ihm, und eine seltsame Aufregung erfaßte sie, als sie die beiden Torpfosten passierte. Vielleicht war Estabrook der Grund für ihr sonderbares Empfinden: Er schien ganz und gar auf dieses Abenteuer konzentriert zu sein und unterschied sich plötzlich von dem schwach und krank wirkenden Mann, den sie zwei Wochen vorher in der Klinik gesehen hatte. Als sie über einige gesplitterte Bretter hinwegstieg, bot er ihr die Hand, und für einige Sekunden sah 314
sie die Szene aus dem Blickwinkel eines neutralen
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