Imagica
was 319
mir die Augen geöffnet hat?«
»Nein. Was?«
»Die Leiche in der Heide. Ich habe dir davon erzählt, nicht wahr? Zwei Tage lang saß ich am Fenster und beobachtete, wie die Leute im Schlamm buddelten, und dabei dachte ich: Was für ein mieses Leben - irgendwann erwischt es einen. Ich war bereit, mir die Pulsadern aufzuschneiden, und vielleicht hätte ich tatsächlich Selbstmord begangen. Doch dann kamst du, und ich entsinne mich deutlich daran, wie ich auf deine Gegenwart reagiert habe. Ich hatte das Gefühl, als geschähe ein Wunder, als erhielte ich einen verlorenen Schatz zurück. Und ich überlegte: Wenn ich an ein Wunder glaube - warum dann nicht an alle? Selbst an die, von denen Oscar berichtete. An Imagica und die Domänen, an die dort lebenden Leute, an die Städte.
Ich forderte mich selbst auf: Akzeptiere die andere Realität, bevor es zu spät ist, bevor du als Leiche im Regen liegst.«
»Du wirst nicht im Regen sterben.«
»Es ist mir völlig gleich, wo ich sterbe, Judith. Viel wichtiger erscheint es mir, wo ich lebe. Ich möchte mit Hoffnung leben. Ich möchte mit dir leben.«
»Charlie...«, sie zögerte kurz. »Darüber sollten wir jetzt nicht reden.«
»Warum nicht? Hier und jetzt bietet sich uns eine gute Gelegenheit. Du hast mich aus einem ganz bestimmten Grund gebeten, dich hierherzubringen - weil du Antworten auf gewisse Fragen möchtest. Das kann ich gut verstehen. Wenn ein verdammter Killer hinter mir her gewesen wäre, hätte ich ebenfalls den Wunsch, die eine oder andere Frage zu stellen.
Denk darüber nach, Judith. Um mehr bitte ich dich nicht. Denk darüber nach, ob es der neue Charlie verdient, daß du ihm ein wenig von deiner Zeit widmest. Versprichst du's mir?«
»Ja.«
»Danke«, sagte Estabrook, nahm Judes Hand und hauchte ihr einen Kuß auf die Finger.
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»Von einigen Geheimnissen meines Bruders hast du schon gehört«, fuhr er fort. »Jetzt sollst du auch die anderen kennenlernen. Siehst du den kleinen Wald dort drüben? Dort befindet sich Oscars Bahnhof; dort beginnt er seine Reisen ins Wunderland.«
»Das würde ich mir gern ansehen.«
»Machen wir einen kleinen Spaziergang, Ma'am?«
Estabrook blickte sich um. »Wo ist der Hund?« Er pfiff, und Skin lief herbei, wirbelte golden glitzernden Staub auf. »Also gut. Gehen wir nach draußen, an die frische Luft.«
3
Im hellen Sonnenschein fiel es leicht, sich vorzustellen, wie schön dieser Ort trotz seines gegenwärtigen Zustands sein mochte, wenn im Frühling der Löwenzahn blühte und Vögel zwitscherten. Einmal mehr ließ Judith ihrer Fantasie freien Lauf, und einige Sekunden lang glaubte sie, an einem warmen Sommerabend auf dem Balkon zu sitzen. Sie war sehr neugierig auf Oscars ›Bahnhof‹, verzichtete jedoch darauf, mit langen, eiligen Schritten zu gehen. Statt dessen schlenderten sie, ließen sich Zeit, blickten dann und wann zum Haus zurück.
Von dieser Seite gesehen - mit den Terrassen, die zum Ballsaal emporführten - wirkte es noch großartiger. Der Wald vor ihnen war nicht sehr groß, doch die Bäume wuchsen dicht an dicht und verbargen Estabrooks Ziel, bis sie über das vermoderte Laub des letzten Herbstes wanderten. Als Judith das Gebäude sah, wirkte es sofort vertraut. Sie hatte es oft genug betrachtet, auf dem Bild vor dem Safe.
»Die Zuflucht«, sagte sie.
»Du kennst sie?«
»Natürlich.«
Vögel sangen in den Baumwipfeln - der warme Sonnenschein gaukelte ihnen ein vorzeitiges Ende des Winters vor. Als Jude den Kopf hob, schienen die Äste und Zweige ein 321
kuppelförmiges Dach über der Zuflucht zu formen - der Ort erschien dadurch fast wie ein Heiligtum.
»Oscar nennt dies hier die ›Schwarze Kapelle‹«, sagte Charlie. »Frag mich nicht nach dem Grund dafür.«
Es gab weder Fenster noch Türen, zumindest auf dieser Seite. Sie gingen einige Meter weit, bevor der Zugang in Sicht geriet. Skin hechelte vor der Pforte, doch als Charlie sie öffnete, sprang er nicht über die Schwelle.
»Feigling«, brummte Estabrook und trat vor Judith ein.
»Hier droht keine Gefahr.«
Das Gefühl des Sakralen verstärkte sich im Innern des Gebäudes, doch trotz ihrer Erfahrungen mit und seit Pie'oh'pah war sie schlecht auf das Geheimnisvolle vorbereitet. Alles moderne Denken wurde nun zu einer Last, zu einer Fessel.
Judith wünschte sich ein vergessenes Selbst aus ihrer Vergangenheit, ein anderes Ich, das mit solchen Situationen besser fertig werden konnte. Was Charlie betraf... Zwar
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