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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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    Wirklichkeit zu werden. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, und die Wangen glühten. Die Knie wurden ihr weich. Es fühlte sich nicht angenehm an, ganz im Gegenteil - ein derartiges Empfinden konfrontierte sie mit geradezu schrecklicher Hilflosigkeit. Der einzige Trost (und er war kaum der Rede wert) bestand darin, daß ihr Partner von diesem Lodern des Begehrens ebenso verwirrt zu sein schien.
    Erneut verstummte der Hund, und Charlie rief Judiths Namen. Oscars Blick huschte zur Tür, und Jude sah ebenfalls zum Ausgang. Estabrook stand jenseits der Schwelle, bewaffnet mit einem großen Knüppel. Hinter ihm zeigte sich ein gräßliches Etwas: Ein halb verbranntes Wesen, das Gesicht zerfetzt - wofür Charlie die Verantwortung trug; Jude bemerkte verkohlte Hautfetzen an der improvisierten Keule - tastete blind nach Oscars Bruder.
    Judith schrie, und Estabrook trat beiseite, als sich das Geschöpf nach vorn neigte, das Gleichgewicht verlor und fiel.
    Eine Hand, ihre Finger bis auf die Knochen verbrannt, kroch zum Türrahmen, doch Charlie zögerte nicht und schmetterte seinen Knüppel auf den Schädel hinab. Knochen splitterten; silbrig glänzendes Blut spritzte, als die entsetzliche Gestalt zusammensackte.
    Oscar stöhnte leiste.
    »Du Mistkerl!« zischte Charlie. Er schnaufte und schwitzte, doch in seinen Augen leuchtete eine Entschlossenheit, die Judith jetzt zum erstenmal bei ihm sah. »Laß sie los.«
    Oscars Hand löste sich von ihrem Arm, was Jude sehr bedauerte. Ihre Emotionen Estabrooks gegenüber waren nur ein Schatten verglichen mit dem, was sich nun in ihr regte - sie schien Charlie anstelle eines Mannes geliebt zu haben, den sie gar nicht kannte. Doch jetzt stand er ihr gegenüber, und endlich hörte sie seine Stimme, nicht nur ihr Echo; Estabrook wirkte dagegen wie ein armseliger Ersatz, trotz seiner verspäteten Heldenhaftigkeit.
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    Judith wußte nicht, woher diese Gefühle kamen, aber sie hatten die Kraft des Instinkts und konnten nicht geleugnet werden. Sie starrte Oscar an. Er war kein besonders attraktiver Mann: zu dick, schlecht gekleidet, vielleicht auch anmaßend und arrogant. Normalerweise zog sie andere Gesellschaft vor, doch in diesem Fall weckte irgend etwas prickelnde Leidenschaft in ihr. Die Sorge um Charlies Sicherheit - und auch ihre eigene - verlor jäh an Bedeutung.
    »Schenk ihm keine Beachtung«, sagte Estabrook. »Du hast nichts von ihm zu befürchten.«
    Judith blickte zu Charlie, der neben seinem Bruder wie eine leere Hülle anmutete, wie ein bemitleidenswerter Neurotiker.
    Hatte sie ihn tatsächlich geliebt?
    »Komm«, forderte er sie auf und winkte.
    Sie rührte sich nicht von der Stelle - bis Oscar murmelte:
    »Gehen Sie.«
    Daraufhin setzte sie sich in Bewegung, um Godolphin zu gehorchen.
    Ein neuerlicher Schatten fiel auf die Schwelle. Ein streng gekleideter junger Mann mit gefärbtem blondem Haar manifestierte sich im Zugang der Kapelle. Seine Gesichtszüge waren so perfekt, daß sie fast etwas Banales an sich hatten.
    »Misch dich nicht ein, Dowd«, knurrte Oscar. »Diese Sache betrifft nur Charlie und mich.«
    Dowd betrachtete die Leiche auf der Schwelle, sah dann Godolphin an und formulierte drei warnende Worte:
    »Er ist gefährlich.«
    »Ich weiß«, entgegnete Oscar. »Judith... Ich schlage vor, Sie begleiten Dowd nach draußen.«
    »Halt dich von dem Hurensohn fern«, sagte Estabrook. »Er hat Skin umgebracht. Und da draußen gibt's noch so ein...
    Ding.«
    »Sie heißen Voider, Charlie«, brummte Oscar. »Und sie werden ihr kein Haar krümmen. Judith, sehen Sie mich an.«
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    Sie drehte den Kopf. »Sie sind nicht in Gefahr. Verstehen Sie?
    Niemand wird ihnen ein Leid zufügen.«
    Sie verstand. Und sie glaubte ihm. Jude richtete den Blick nicht noch einmal auf Charlie, als sie zur Tür ging. Dowd wich beiseite und streckte die Hand aus, um ihr dabei zu helfen, über die Leiche des Voiders hinwegzusteigen. Aber sie ignorierte ihn, trat nach draußen in den Sonnenschein und fühlte sich dabei auf eine eigentümliche Weise beschwingt. Dowd folgte ihr, als sie sich von der Kapelle entfernte - sie spürte seinen Blick im Rücken.
    »Judith...«, sagte er. Es klang erstaunt.
    »Das bin ich«, erwiderte sie. Aus irgendeinem Grund schien es sehr wichtig zu sein, Anspruch auf diese Identität zu erheben.
    Nach einigen Dutzend Metern setzte sie sich auf den weichen Boden und bemerkte den anderen Voider. Er untersuchte Skins Kadaver, strich mit den Fingerkuppen über die

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