Imagica
waren das für Wesen?« fragte sie und deutete zu den verkohlenden Resten.
»Haben Sie noch nie Voider gesehen oder von ihnen gehört?« erwiderte der junge Mann. »Sie sind die Geringsten der Geringen. Ich habe sie selbst aus dem In Ovo hierhergebracht, obwohl ich kein Maestro bin - das gibt Ihnen eine Vorstellung von ihrer Leichtgläubigkeit.«
»Als warmer Wind aus der Kapelle wehte, als das Geschöpf schnupperte...«
»Rührend, nicht wahr? Es hat Yzordderrex gerochen.«
»Vielleicht wurde es dort geboren.«
»Durchaus möglich. Manche Leute behaupten, die Existenz von Voidern gehe auf kollektive Wünsche zurück, aber das stimmt nicht ganz. Es sind Rachekinder. Zur Welt gebracht von Frauen, die den Pfad allein beschreiten.«
»Ach? Und es gehört sich nicht, den Pfad allein zu beschreiten?« fragte Judith.
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»Nicht für Frauen. Es ist streng verboten.«
»Und wenn sie das Gesetz nicht achten, so besteht die Strafe aus Schwangerschaft?«
»Ja«, bestätigte Dowd. »Bei Voidern ist keine Abtreibung möglich. Sie sind dumm, aber sie setzen sich immer zur Wehr, selbst im Hinblick darauf. Außerdem widerspricht es dem Instinkt von Frauen, etwas zu töten, das in ihnen heranwächst.
Verbannt ins In Ovo, überleben die Voider länger als alles andere. Sie ernähren sich von den unterschiedlichsten Dingen; manchmal fallen sie auch übereinander her. Und wenn sie Glück haben, beschwört sie jemand aus dieser Domäne.«
Soviel zu lernen, dachte Judith. Vielleicht boten sich ihr Vorteile, wenn sie Dowds Freundschaft gewann - obgleich er völlig reizlos wirkte. Er schien Gefallen daran zu finden, sein Wissen zu zeigen, und je mehr Informationen sie bekam, um so besser war sie vorbereitet, wenn sie schließlich durch die Tür nach Yzordderrex trat. Sie wollte weitere Fragen über die Stadt dort stellen, als erneut Wind aus der Kapelle wehte und die Flammen des Feuers höher emporzüngeln ließ.
»Sie kehren zurück«, sagte Judith und lief zu dem Gebäude.
»Seien sie vorsichtig«, mahnte Dowd. »Sie wissen nicht, wer oder was dort drinnen erscheint.«
Sie ignorierte die Warnung und erreichte die Tür, als das zischende Flüstern der warmen Sommerbrise verklang. Trotz der Düsternis im Innern der Zuflucht sah Jude eine einzelne Gestalt in der Mitte des Mosaiks - sie keuchte und taumelte ihr entgegen. Als sie nur noch zwei Meter von Judith entfernt war, geriet sie in den vom Feuer erhellten Bereich: es war Oscar Godolphin, die eine Hand zur blutenden Nase gehoben.
»Verdammter Mistkerl«, brummte er.
»Wo ist er?«
»Tot«, sagte Oscar schlicht. »Mir blieb keine Wahl, Judith.
Er war übergeschnappt. Allein der Himmel weiß, was er angestellt hätte, wenn...«
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Er streckte Judith den Arm entgegen. »Darf ich Sie um Hilfe bitten? Charlie hätte mir fast die Nase gebrochen.«
»Das übernehme ich«, sagte Dowd in einem
besitzergreifenden Tonfall. Er ging an Jude vorbei, holte ein Handtuch hervor und hob es an Godolphins Nase. Oscar winkte ihn fort.
»Ich werd's überleben. Kehren wir heim.« Sie verließen die Kapelle, und Oscar sah zum Feuer hinüber.
»Die Voider«, erklärte Dowd.
Godolphin warf Judith einen Blick zu. »Sie mußten beobachten, wie er die Wesen verbrannte? Tut mir leid.« Er wandte sich an den jungen Mann und schnitt eine Grimasse.
»So behandelt man keine Dame. In Zukunft erwarte ich bessere Manieren von dir.«
»Was soll das heißen?«
»Judith wohnt von jetzt an bei uns. Das stimmt doch, oder?«
Es beschämte sie, daß sie nur kurz zögerte, bevor sie antwortete: »Ja, ich begleite Sie.«
Oscar ging zufrieden zu den Resten des Feuers und starrte in die verblassende Glut.
»Fahr morgen noch einmal hierher«, wies er Dowd an.
»Verstreu die Asche und vergrab die Knochen. Ich habe ein kleines Gebetbuch, das vom ›Sünder‹ stammt. Bestimmt finden wir etwas Passendes darin.«
Während Godolphin sprach, blickte Judith in die dunkle Kapelle und dachte an die Reise, die dort begonnen hatte, an die Stadt am anderen Ende der verlockenden Brise. Eines Tages kann ich jene Wunder mit eigenen Augen sehen.
Während der Suche nach einem Weg zur anderen Welt hatte sie einen Ehemann verloren, doch dieser Verlust erschien ihr nun unwesentlich. Sie verdankte Godolphin ganz neue Gefühle. Noch wußte Jude nicht, welche Beziehung zwischen Oscar und ihr entstehen würde, aber vielleicht konnte sie ihn dazu überreden, sie irgendwann einmal nach Imagica 334
mitzunehmen.
Judith
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