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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Flanken des Hundes. Jude senkte den Kopf, wollte sich die seltsame Freude nicht von Morbidität verderben lassen.
    Sie und Dowd befanden sich am Rand des Waldes, und von hier aus konnte man einen großen Teil des Himmels sehen. Die Sonne neigte sich dem Horizont entgegen und veränderte dabei ihre Farbe, verlieh dem Panorama aus Park, Terrassen und Haus zusätzliche Pracht.
    »Ich habe den Eindruck, schon einmal hiergewesen zu sein«, sagte Judith.
    Diese Vorstellung hatte etwas Tröstendes; sie entsprang einem Teil ihres Ichs, von dessen Existenz sie erst jetzt erfuhr -
    ähnlich verhielt es sich mit den Gefühlen, die Oscars Gegenwart in ihr weckte -, und es genügte zunächst zu wissen, daß es sie gab. Festzustellen, wodurch sie verursacht wurden, das verschob sie auf einen späteren Zeitpunkt. Den größten Teil des Lebens, an das sich Jude erinnerte, hatte sie in einem Strom aus Ereignissen verbracht, auf den sie keine oder nur 327

    sehr geringe Kontrolle ausüben konnte. Daher war es sehr angenehm, so intensive und tief in ihr verwurzelte Empfindungen wahrzunehmen, ohne daß damit die Notwendigkeit einer Analyse einherging. Sie bildeten einen integralen Bestandteil ihres Selbst - diese Erkenntnis reichte völlig aus.
    Morgen oder übermorgen würde sie vielleicht versuchen, diese neuen Emotionen zu ergründen.
    »Verbinden Sie spezielle Erinnerungen mit diesem Ort?«
    fragte Dowd.
    Judith überlegte.
    »Nein«, antwortete sie nach einer Weile. »Ich habe nur das Gefühl... hierherzugehören.«
    »Dann ist es vielleicht besser, sich nicht zu erinnern«, kommentierte Dowd. »Sie wissen sicher, daß einem das Gedächtnis manchmal die seltsamsten Streiche spielt.«
    Judith fand keinen Gefallen an diesem Mann, aber seine Worte enthielten durchaus Wahrheit. Ihr Erinnerungsvermögen reichte kaum zehn Jahre zurück, und noch frühere Geschehnisse blieben in der Dunkelheit des Vergessens verborgen. Wenn ihr irgendwann einfiel, warum ihr dieser Ort so vertraut erschien... Gut. Wenn nicht... Sie konnte sich den neuen Gefühlen hingeben - und sie aufgrund ihrer geheimnisvollen Rätselhaftigkeit noch mehr genießen.
    Stimmen drangen aus der Kapelle. Echos und Entfernung verzerrten die Worte, machten sie unverständlich.
    »Ein Streit zwischen Brüdern«, meinte Dowd. »Wie fühlt sich eine Frau, um die zwei Männer kämpfen?«
    »Ein solcher Kampf wäre sinnlos«, entgegnete Judith.
    »Oscar und Charles scheinen anderer Meinung zu sein«, sagte Dowd.
    Die Stimmen wurden immer lauter, verwandelten sich in Schreie - und dann herrschte einige Sekunden lang Stille.
    Schließlich sprach Oscar, wesentlich leiser als vorher, und Estabrook unterbrach ihn mehrmals. Feilschen sie jetzt um 328

    mich? ging es Judith durch den Kopf. Sie spielte mit dem Gedanken, in die Kapelle zurückzukehren, um dort ihre Wahl zu treffen. Es war besser, die Karten offen auf den Tisch zu legen - bevor Charlie einen Preis für etwas bezahlte, das er gar nicht bekommen konnte.
    »Was haben Sie vor?« fragte Dowd.
    »Ich muß mit Oscar und Charlie reden.«
    »Mr. Godolphin hat Sie gebeten...«
    »Ich weiß. Trotzdem muß ich mit ihnen reden.«
    Weiter rechts erhob sich der Voider. Er richtete den Blick nicht auf Judith, sondern sah zur offenen Tür der Zuflucht hinüber. Das Wesen schnüffelte, gab ein klagendes Pfeifen von sich, sprang mit weiten Sätzen zur Pforte und erreichte sie vor der Frau. Es achtete überhaupt nicht auf seinen toten Artgenossen und stapfte einfach über ihn hinweg. Als sich Jude der Tür bis auf wenige Meter näherte, nahm sie den Geruch wahr, der den Voider zu plötzlicher Aktivität veranlaßt hatte.
    Eine Brise wehte ihr aus der Kapelle entgegen, zu warm für die Jahreszeit und von sonderbaren Aromen erfüllt, und sie begriff erschrocken, daß sich ein enttäuschendes Erlebnis zu wiederholen begann. In der Zuflucht setzte sich nun jener Zug in Bewegung, der zwischen den Domänen verkehrte; der warme Wind kam aus Imagica.
    » Oscar!« rief Judith und stolperte über die Leiche, aus der noch immer silbriges Blut tropfte.
    Die Reisenden waren bereits unterwegs, verschwanden auf die gleiche Weise wie Gentle und Pie'oh'pah. Der Voider wollte ihnen unbedingt folgen und warf sich in das flirrende Wogen, in den Strudel, der zu anderen Welten führte.
    Vielleicht hätte sich Judith ein Beispiel an ihm genommen -
    wenn der Fehler nicht offensichtlich gewesen wäre. Das Geschöpf berührte den Strudel zu spät, um zum Ziel der beiden

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