Imagica
versuchte, sich die Mysterien vorzustellen, die hinter den Schleiern der Fünften Domäne warteten, doch ihre Fantasie reichte nicht aus, um ein gedankliches Bild von der Realität derartiger Reisen zu malen. Aufgrund von Dowds Hinweisen nahm sie an, daß es sich beim In Ovo um eine Art Ödnis handelte, um eine in jeder Hinsicht finstere Welt, vergleichbar mit dem immer dunklen Kosmos, der sich am Grund der Ozeane erstreckte. Voider, so glaubte Jude, schwebten dort umher wie in der Nacht Ertrunkene, und Geschöpfe, die nie das Licht der Sonne gesehen hatten, krochen auf dem Boden, umhüllt vom Glühen der eigenen Biolumineszenz. Doch wie sollte sie wissen, daß die Bewohner des In Ovo noch viel bizarrer waren als irgendwelche Geschöpfe am Meeresgrund. Ihre Gestalten und Gelüste spotteten jeder Beschreibung. In vielen von ihnen brodelte eine jahrhundertealte Mischung aus Zorn und Verzweiflung.
Und auch die Szenen auf der anderen Seite jenes unheilvollen Landes unterschieden sich von denen, die in Judiths Imagination existierten. Der yzordderrexianische Expreß hätte sie nicht etwa ins strahlende Zentrum einer sommerlichen Stadt gebracht, sondern in einen feuchten Keller, der ›Sünder‹ Hebbert als geheimes Lager für seine Talismane und Versteinerungen diente. Um nach draußen zu gelangen, wäre ihr nichts anderes übriggeblieben, als die Treppe zu erklimmen und durchs Haus zu gehen. Auf der Straße hätten sich zumindest einige ihrer Erwartungen erfüllt. Die Luft war tatsächlich warm und aromatisch, und über der Stadt wölbte sich ein schimmernder Himmel: Das Licht stammte von einem Kometen, dessen Schweif am Firmament der Zweiten Domäne gleißte. Wenn Jude ihn eine Zeitlang beobachtet hätte, um dann den Kopf zu senken und aufs Pflaster zu blicken... Dort spiegelte sich das Licht des Kometen in einer Lache aus Blut wider. Dies war der Ort des Kampfes zwischen zwei Brüdern; 335
hier hatte Oscar den Sieg über Charlie errungen.
Estabrook blieb nicht lange allein. Es sprach sich rasch herum, daß ein seltsam gekleideter Fremder im Rinnstein lag; noch immer tropfte es rot aus seinen Wunden, als drei Personen kamen, um Anspruch auf ihn zu erheben. Man hatte sie in diesem Kesparat noch nie zuvor gesehen - es schienen Mangler zu sein, nach ihren Tätowierungen zu urteilen. Judith hätte ihr Verhalten sicher für seltsam gehalten: Sie lächelten sanft, als sie ins blutige Gesicht hinabsahen, und einer von ihnen schluchzte leise, als sie den Reglosen behutsam anhoben, als ihre Arme eine Bahre für ihn formten. Vielleicht wäre der Beobachterin auch aufgefallen, daß der Eindruck von Leblosigkeit täuschte - Charlies Brust hob und senkte sich kaum merklich.
Charles Estabrook, für tot gehalten und in der Gosse von Yzordderrex zurückgelassen, hatte noch genug Atem im Leib, um als Verlierer bezeichnet zu werden, nicht als Leiche.
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KAPITEL 22
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Als Gentle und Pie zum zweitenmal Beatrix verließen, schienen die Tage kürzer zu werden, was ihre Vermutung bestätigte, daß die Nächte in den Jokalaylau länger waren als im Tiefland. Gewißheit konnten sie nicht erlangen, denn ihre beiden Zeitmesser - Gentles Bart und Pies Darm - wurden immer unzuverlässiger, als sie höher kletterten. Zacharias rasierte sich nicht mehr, und ihr Hunger ließ nach, was zu geringerem Stuhlgang führte. Die dünnere Luft wirkte alles andere als appetitanregend, und manchmal waren sie viele Stunden lang unterwegs, ohne einen Gedanken an die Be-dürfnisse des Körpers zu verschwenden. Gelegentlich mußten sie sich gegenseitig daran erinnern, daß ihre leibliche Existenz Rücksicht verlangte. Hinzu kamen die beiden Reittiere, deren zottelige Rücken sie trugen. Wenn die Doeki hungrig wurden, blieben sie einfach stehen und ignorierten den Rest der Welt, während sie an den Blättern eines Busches knabberten oder spärlich wachsendes Gras fraßen. Zuerst ärgerten sich die Reiter darüber, fluchten und versuchten, die Tiere anzutreiben.
Doch nach einigen Tagen gewöhnten sie sich daran, vertrauten dem Verdauungsrhythmus der Doeki und nutzten die Pausen für eigene Mahlzeiten.
Schon bald mußten sie sich mit der Tatsache abfinden, daß Pies Schätzungen im Hinblick auf die Dauer der Reise hoffnungslos optimistisch gewesen waren. Ihre Erfahrungen bestätigten die Prophezeiungen des Mystifs nur in einem Punkt: Bereits nach kurzer Zeit bekamen sie eine Begleiterin namens Mühsal. Sie hatten noch nicht die Schneegrenze erreicht, als sie
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