Imagica
Bürgersteig vor ihm und zog etwas aus der Hosentasche. Einen Revolver?
Nein. Ein Messer? Nein. Ein winziges Ding kroch zwischen den Fingern des Voiders hervor, wie ein Floh. Chant richtete den Blick darauf, und das Etwas sprang seinem Gesicht entgegen. Aus einem Reflex heraus hob er den Arm vor Augen und Mund, und der Floh berührte ihn an der Hand. Er schlug mit der anderen danach, doch das kleine Wesen war schneller und verschwand unter seinem Daumennagel. Chant sah Bewegungen im Fleisch des Daumens und umklammerte ihn am Gelenk, um zu verhindern, daß der Floh in den Arm gelangte. Er keuchte laut, als hätte jemand einen Eimer mit eiskaltem Wasser über ihm entleert. Schier unerträglicher Schmerz loderte in Sartoris Diener, eine Pein, die in keinem Verhältnis zu dem winzigen Geschöpf stand, das sie verursachte. Er unterdrückte ein Stöhnen, um seinen Henkern gegenüber nicht die Würde zu verlieren, wankte vom Bürgersteig auf die Straße 46
und blickte zu den hellen Lichtern an der nächsten Kreuzung hinüber. Es blieb fraglich, ob sie Sicherheit verhießen, doch wenn es zum Schlimmsten kam... Chant dachte daran, sich von einem Wagen überfahren zu lassen und die Voider so um das Vergnügen zu bringen, ihn bei einem langsamen und qualvollen Tod zu beobachten.
Er lief nun, die Finger der einen Hand noch immer um den Daumen der anderen geschlossen. Diesmal sah er nicht zurück.
Es war auch gar nicht nötig. Das Pfeifen verklang, wich dem Schnurren des Wagens, der vor dem Mietshaus gehalten hatte.
Chant mobilisierte seine ganze Kraft, rannte noch schneller und erreichte die breite Straße - leer erstreckte sie sich vor ihm. Er hastete nach Norden, vorbei an der U-Bahn-Station, in Richtung Elephant and Castle. Nach einigen Dutzend Metern widerstand er der Versuchung nicht länger und drehte noch einmal den Kopf: Der Wagen folgte ihm, und drei Personen saßen darin. Die Voider und noch jemand im Fond. Chant keuchte atemlos, und - dem Himmel sei Dank! - hinter der nächsten Ecke rollte ein Taxi hervor; das gelbe Licht auf dem Dach verkündete, daß der Mann am Steuer einen Fahrgast suchte. Chant verbarg seinen Schmerz und wußte: Der Taxifahrer bremste bestimmt nicht, wenn er ihn für verletzt hielt. Er trat auf den Asphalt und winkte, mußte dafür die Hand aber vom Daumen nehmen. Der Floh nutzte die gute Gelegenheit sofort aus und fraß sich ins Handgelenk. Aber wenigstens wurde das Taxi langsamer und verharrte am Straßenrand.
»Wohin, Kumpel?«
Chant erstaunte sich selbst mit der Antwort. Er nannte nicht etwa Estabrooks Adresse, sondern die eines ganz anderen Ortes.
»Clerkenwell«, sagte er. »Gamut Street.«
»Keine Ahnung, wo das ist«, erwiderte der Fahrer. Ein oder zwei entsetzliche Sekunden lang glaubte Chant, der Mann 47
würde Gas geben und weiterfahren, ohne ihn mitzunehmen.
»Ich zeige Ihnen den Weg«, bot er sich an.
»Na schön. Steigen Sie ein.«
Chant kam der Aufforderung sofort nach, zog erleichtert die Tür zu und hatte gerade erst Platz genommen, als das Taxi beschleunigte.
Warum Gamut Street? Dort existierte nichts, was Heilung versprach. Inzwischen war eine Rettung ohnehin unmöglich.
Der Floh - oder eine Variation der entsprechenden Spezies -
befand sich bereits im Ellenbogen, und Taubheit erfaßte den ganzen Unterarm. Das Leben wich aus der Hand: Die Haut wurde faltig, schälte sich ab. Chant zwang seine Gedanken zu dem Haus an der Gamut Street, einst ein Ort der Wunder.
Mächtige Männer und Frauen hatten es besucht und vielleicht Geister ihrer selbst hinterlassen, Schatten, die ihm Frieden schenken konnten. So lautete Sartoris Lehre: Selbst die geringsten aller Geschöpfe hinterließen Spuren in dieser Domäne: ein Neugeborenes, das starb, nachdem es zum erstenmal die Augen geöffnet hatte; ein ungeborenes Kind, das im Fruchtwasser der Gebärmutter ertrank - selbst jenes Leben blieb nicht ohne Auswirkungen. Und die einstigen Herrscher der Gamut Street... Welche Echos erinnerten an sie?
Chants Herz pochte schneller, und er zitterte. Unruhe prickelte in ihm, die Furcht davor, zu früh die Kontrolle über sich zu verlieren. Er holte den Brief an Estabrook hervor und öffnete das Fenster in der Trennscheibe zwischen Fahrer und Fond.
»Wenn Sie mich in Clerkenwell abgesetzt haben... Wären Sie so nett, dieses Schreiben für mich zuzustellen?«
»Tut mir leid, Kumpel. Nach dieser Fahrt mache ich Schluß.
Meine Frau wartet auf mich.«
Chant tastete nach seiner
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