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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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»Ich weiß nicht, welche Spielchen du mit mir treibst, aber...«
    »Mich trifft keine Schuld«, protestierte Pie. »Du bist selbst dafür verantwortlich. Du willst nicht hören, was ich dir zu sagen habe.«
    »Unsinn.« Gentle wischte sich kalten Schweiß aus den Mundwinkeln. »Ich möchte Antworten. Klare Antworten.«
    Pie schnitt eine grimmige Miene und begann erneut zu reden. Sofort spürte Zacharias neuerliche Übelkeit, und jetzt gesellten sich stechende Schmerzen hinzu. Aus einem Reflex heraus krümmte er sich zusammen, und dann versuchte er, die 414

    Pein zu ignorieren. Er wollte dem Mystif keine Gelegenheit geben, etwas vor ihm zu verbergen - dies war jetzt eine Frage des Prinzips. Aus zusammengekniffenen Augen starrte er auf Pies Lippen, doch nach einigen Worten öffneten sie sich nicht mehr und bildeten nur noch einen dünnen Strich.
    »Sag es mir!« zischte Gentle. Er war entschlossen, von Pie Gehorsam zu verlangen, selbst wenn seine Silben keinen Sinn für ihn ergaben. »Was möchte ich unbedingt vergessen? Was habe ich getan? Sag es mir!«
    In den Zügen des Mystifs zeichnete sich deutlicher Widerwille ab, als er zu einer Antwort ansetzte. Gentle verstand fast gar nichts, ahnte jedoch, daß es um Macht und Kraft ging, auch um Tod.
    Diese Hinweise genügten ihm, und er winkte ab, forderte Pie mit stummen Gesten auf, zu schweigen und ihm weitere Qualen zu ersparen. Dennoch blieb der erhoffte Frieden aus, denn die unmittelbare Umgebung bot viele kleine Schrecken: Noch immer bauten die Grabstinker an ihrem Nest unter den Gleisen; langen Schienen, die seinen Blick in Staub und Dunst zerrten; vor ihm der tote Zarzi mit einem geplatzten Eiersack, aus dem Ungeborene auf den Stein tropften. Dieser Anblick mochte gräßlich sein, aber er veranlaßte Gentle, an eine von Pie beschriebene, ganz bestimmte kulinarische Spezialität zu denken - im Hafen-Restaurant von Yzordderrex: ein Fisch innerhalb eines Fisches, der ebenfalls in einem Fisch steckte; der Bauch des letzten Exemplars voller Kaviar. Diese Vorstellung war zuviel für ihn. Zacharias taumelte zum Rand des Bahnsteigs, und dort krampfte sich etwas in ihm zusammen, preßte den Mageninhalt nach oben. Er übergab sich und spürte dabei immer neue Krämpfe, bis in seinem Innern Leere herrschte, bis der Bauch schmerzte und ihm Tränen aus den Augen strömten. Nach einer Weile drehte er sich um und schauderte. Der Geruch des Erbrochenen haftete ihm noch immer in der Nase, doch das Stechen im Magen ließ nun nach.
    415

    Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich Pie näherte.
    »Komm mir nicht zu nahe!« krächzte er. »Ich will nicht, daß du mich berührst!«
    Er wandte sich von den Gleisen und seinem Mageninhalt ab und kehrte erneut in den Wartesaal zurück. Dort setzte er sich auf die Sitzbank aus hartem Holz, lehnte den Kopf an die Wand und schloß die Augen. Als sich die letzten Schatten des Schmerzes in ihm verflüchtigten, überlegte er, aus welchem Grund Pie so aggressiv gewesen war. Während der vergangenen Monate hatte er ihn gelegentlich nach der Macht beziehungsweise Kraft gefragt. Woher kam sie? Und wieso konnte ausgerechnet er, Gentle, darüber gebieten? Pie antwortete immer, ohne Konkretes preiszugeben, doch Zacharias hielt es nie für erforderlich, der Sache auf den Grund zu gehen. Vielleicht hatte er unbewußt entsprechendes Wissen abgelehnt? Für gewöhnlich mußten solche Fähigkeiten mit gewissen Konsequenzen bezahlt werden, und er fühlte sich in seiner Rolle als übernatürlich Begabter viel zu wohl, um Gedanken an Hybris und dergleichen zu vergeuden. Bisher hatte er sich mit vagen Erklärungen und ausweichenden Bemerkungen abspeisen lassen, und vielleicht wäre er auch weiterhin damit zufrieden gewesen. Aber die Zarzis und die Verspätung des Zuges nach L'Himby stimulierten Ärger und Bereitschaft zu einer Auseinandersetzung - deshalb bestand er darauf, die Wahrheit zu hören.
    Dünne Falten furchten Gentles Stirn, als Zweifel in ihm keimte. Es steckte noch mehr dahinter. Ja, er hatte den Mystif unter Druck gesetzt, aber von einer regelrechten Provokation konnte sicher nicht die Rede sein. Warum Pie'oh'pahs heftige Reaktion? Ich habe eine harmlose Frage gestellt, dachte Zacharias. Und er hat darauf mit Worten geantwortet, die mir fast den Bauch zerrissen hätten. Soviel zu den Liebesbe-kenntnissen im Gebirge...
    »Gentle...«
    416

    »Zum Teufel mit dir!«
    »Der Zug, Gentle...«
    »Was ist damit?«
    »Er kommt.«
    Zacharias öffnete die Augen.

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