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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Pie'oh'pah stand in der Tür, wirkte einsam und verlassen.
    »Was mit dir geschehen ist...«, sagte der Mystif. »Es tut mir leid.«
    »Es mußte nicht geschehen«, erwiderte Gentle. »Du hast dafür gesorgt.«
    »Nein, das stimmt nicht. Bitte glaub mir.«
    »Was war dann die Ursache? Habe ich vielleicht verdorbene Nahrungsmittel gegessen?«
    »Nein. Es gibt einige Fragen...«
    »Die Übelkeit in mir wecken.«
    »...deren Antworten du nicht hören willst.«
    »Für was hältst du mich?« entgegnete Gentle leise und verächtlich. »Ich stelle eine Frage, und du stopfst mir soviel verdammten Mist in den Kopf, daß ich kotzen muß - woran ich selbst schuld bin, weil ich die Frage gestellt habe. Ist das deine Vorstellung von Logik?«
    Pie hob die Hände zu einer kapitulierenden Geste.
    »Ich widerspreche dir nicht«, sagte er.
    »Wäre auch vollkommen sinnlos«, knurrte Gentle.
    Eine Fortsetzung der Diskussion erwies sich als unmöglich: Das Schnaufen des näher kommenden Zugs wurde immer lauter, und eine große Menge, die sich am Bahnsteig eingefunden hatte, bejubelte seine Ankunft. Gentle fühlte sich noch immer ein wenig schwach, als er Pie nach draußen folgte.
    Die halbe Bevölkerung von Mai-Ke schien sich am Bahnhof versammelt zu haben. Zacharias vermutete, daß die meisten Personen nur Zuschauer waren und keine Reisenden - der Zug lenkte sie von Hunger und unerhörten Gebeten ab. Es gab jedoch einige Familien, die einsteigen wollten, und sie bahnten 417

    sich nun einen Weg durch das Durcheinander. Gentle wagte kaum daran zu denken, welche Entbehrungen diese Leute zwangen, ihre Heimat zu verlassen. Tränen flossen, als sie sich von Verwandten verabschiedeten - die meisten von ihnen waren recht alt, und ihr Kummer deutete darauf hin, daß sie nicht damit rechneten, die Kinder und Enkelkinder wiederzusehen. Die Reise nach L'Himby war für Gentle und Pie nur ein kleiner Ausflug, während er für manche Mai-Keacs das Ende eines Lebensabschnitts bedeutete.
    Zacharias verdrängte diese Überlegungen und richtete seine Aufmerksamkeit auf die gewaltige Lokomotive, die sich jetzt aus einer dichten Dampfwolke hervorschob. Wer auch immer diese grollende, glänzende Maschine entwickelt hatte: Er kannte ihr irdisches Äquivalent, das in der westlichen Welt zwar nicht mehr verkehrte, in China und Indien jedoch noch immer wertvolle Transportdienste leistete. Bei der Imitation war nicht unbedingt Wert auf absolute Treue zum Original gelegt worden; es schien wichtiger gewesen zu sein, daß so etwas wie Lebensfreude zum Ausdruck kam. An der Lokomotive leuchteten so bunte Farben, daß sie wie ein für die Paarung bereites männliches Exemplar ihrer Spezies anmutete.
    Doch unter dem Lack befand sich ein beeindruckendes Aggregat, wie man es nach dem Ersten Weltkrieg in King's Cross oder Marylebone erwartet hätte. Die Maschine zog insgesamt zwölf Waggons, sechs für Passagiere bestimmt, die anderen sechs für Fracht - zwei davon enthielten Schafe. Pie war am Zug vorbeigelaufen und kehrte nun mit folgender Botschaft zu Gentle zurück:
    »Der zweite Waggon. Weiter hinten ist es voller.«
    Sie stiegen ein. Das Innere der Eisenbahnwagen mochte einst luxuriös gewesen sein, doch ständige Benutzung war nicht ohne Folgen geblieben. Den meisten Sitzplätzen fehlten Polster und Kopfstützen, einigen auch die Rückenlehnen.
    Schmutz lag auf dem Boden, und die Wände - einst hatten sie 418

    ebenso bunt geglänzt wie die Lokomotive - brauchten dringend einen neuen Anstrich. In diesem Abteil saßen nur zwei andere Passagiere, beide männlichen Geschlechts und beide auf groteske Weise dick. Sie trugen dunkle, frackartige Kleidung.
    Arme und Beine waren mit Tüchern umwickelt - und verliehen dadurch den Gestalten das Aussehen von Priestern, die gerade einen Aufenthalt in der Unfallstation eines Krankenhauses hinter sich hatten. Ihre Züge erschienen winzig und zart, drängten sich mitten im Gesicht zusammen, wie aus Angst davor, im Fett zu ertrinken. Die Männer aßen Nüsse. Wurst-finger knackten die Hülsen und ließen sie achtlos auf den Boden fallen, wo sie bereits zwei große Haufen bildeten.
    »Brüder der Straße«, sagte Pie, als Gentle möglichst weit von den Nüsse-Essern entfernt Platz nahm.
    Der Mystif setzte sich auf die andere Seite und stellte die Tasche mit ihren Habseligkeiten auf den Nebensitz. Einige Minuten verstrichen: Widerspenstige Tiere wurden in die Frachtwaggons getrieben - vielleicht waren sie deshalb so bockig, weil

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