Imagica
kühlen Oktober. Hier trank er den ersten Schluck, aß den ersten Bissen. Hier ertönte sein erstes Lachen, und später vergoß er hier die ersten Tränen. Im Gegensatz zu den anderen Zimmern, deren Leere die Zeichen der absoluten Verlassenheit trugen, 53
war dieser Raum spärlich eingerichtet und nur manchmal völlig kahl gewesen. Chant hatte hier mit den gleichen Beinen getanzt, die nun leblos unter ihm lagen, während ihm Sartori von seinen Plänen erzählte: Er wollte diese erbärmliche Do-mäne übernehmen und in ihr eine Stadt bauen, die Babylon in den Schatten stellte. Chant tanzte damals aus Freude und Begeisterung, denn er kannte seinen Herrn als einen großen Maestro, ausgestattet mit genug Macht, um die Welt zu verändern.
Verlorener Ehrgeiz. Und verloren war auch alles andere.
Bevor der Oktober vor zweihundert Jahren dem November wich, wurde Sartori von der Nacht verschluckt oder von Feinden ermordet. Chant erinnerte sich an seine Sehnsucht, in den Äther zurückzukehren, aus dem man ihn herabbeschworen hatte, an sein Verlangen, den vom Maestro erhaltenen Körper abzustreifen und die Fünfte Domäne zu verlassen. Aber es gab nur eine Stimme, die fähig war, ihm eine solche Freiheit zu schenken, und sie gehörte Sartori. Und das Verschwinden des Maestros bedeutete: Chant saß für immer auf der Erde fest.
Deswegen haßte er den Beschwörer nicht. Während der gemeinsam verbrachten Wochen war Sartori immer sehr großzügig gewesen. Wenn er sich jetzt manifestiert hätte, hier in diesem vom Mondschein erhellten Zimmer... Chant hätte Sartori nichts vorgeworfen, sondern sich respektvoll vor ihm verbeugt, froh über seine Rückkehr.
»Maestro...«, murmelte er, das Gesicht dicht über den staubigen Dielen.
»Er ist nicht hier«, ertönte eine Stimme hinter ihm. Sie stammte wohl kaum von einem Voider - solche Wesen konnten nur pfeifen. »Sartori hat dich beschworen, stimmt's? Ich erinnere mich gar nicht daran.«
Der Unbekannte sprach in einem sowohl präzisen als auch selbstgefälligen Tonfall. Chant hatte nicht die Kraft, sich umzudrehen; er mußte warten, bis der Mann in sein Blickfeld 54
trat. Als er ihn sah, hütete er sich davor, ihn nach dem äußeren Erscheinungsbild zu beurteilen - immerhin verdankte er seine eigene Gestalt den Vorstellungen Sartoris. Der Fremde mochte wie ein Mensch erscheinen, aber zwei Voider begleiteten ihn, und außerdem wußte er ganz offensichtlich über Dinge Bescheid, von denen die meisten Menschen nichts ahnten. Das Gesicht: wie ein überreifer Käse, mit Hängebacken und dicken Tränensäcken; der Ausdruck darin wie der eines traurigen Komikers. Und das Selbstgefällige beschränkte sich nicht nur auf die Stimme: er befeuchtete sich Unter- und Oberlippe und preßte die Fingerspitzen aneinander, während er nachdenklich auf den Hilflosen hinabblickte. Das Wesen trug einen perfekt sitzenden aprikosenfarbenen Anzug, und Chant hätte eine Menge dafür gegeben, ihm die Nase brechen zu können - damit das Blut des Mistkerls auf Jacke und Hose tropfte.
»Ich bin Sartori nie begegnet«, fuhr der Mann fort. »Was ist mit ihm geschehen?« Er ging vor Chant in die Hocke und griff nach seinem Haar. »Ich habe gefragt, was mit deinem Maestro passiert ist«, fuhr er fort. »Übrigens: Ich bin Dowd. Du weißt nichts von meinem Herrn, Lord Godolphin, und ich weiß nur wenig von deinem. Aber jetzt sind beide fort, und du mußtest dich abrackern, um deinen Lebensunterhalt zu verdienen. Nun, das wird bald nicht mehr nötig sein, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Hast du... hast du ihn zu mir geschickt?«
»Könntest du dich vielleicht etwas klarer ausdrücken?«
»Estabrook.«
»O ja.«
» Warum hast du ihn geschickt?«
»Kleine Zahnräder, die andere kleine Zahnräder bewegen, Teuerster«, antwortete Dowd. »Ich würde dir gern die ganze bittere Geschichte erzählen, aber dir bleibt nicht genug Zeit, um sie anzuhören, und mir fehlt die Geduld, alle Einzelheiten zu erläutern. Ich kannte einen Mann, der die Dienste eines 55
Killers brauchte. Ich kannte einen anderen Mann, der bei solchen Geschäften vermittelte. Belassen wir es dabei.«
»Wie hast du von mir erfahren?«
»Du bist nicht sehr diskret«, entgegnete Dowd. »Am Geburtstag der Königin betrinkst du dich, und du quasselst wie ein Ire bei der Totenwache. Tja, so etwas erregt früher oder später Aufmerksamkeit.«
»Ab und zu...«
»...wirst du melancholisch, ich weiß. Das ist bei uns allen der Fall
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