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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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abgerissen werden. Aber er wußte, daß heilige Stätten -
    eine Beschreibung, die durchaus auf Gamut Street zutraf -
    manchmal überlebten, weil sie selbst am hellichten Tag unsichtbar blieben. Sie trugen die Patina der Magie und täuschten das mißbilligende Auge, fanden ahnungslose Verbündete in Männern und Frauen, die Heiliges instinktiv erkannten. Sie wurden zu Sanktuarien für einige Auserwählte.
    Er stieg die drei Stufen zur Tür hoch, drehte den Knauf - verschlossen - und ging zum nächsten Fenster. Ein Schleier aus Spinnweben verhüllte es, doch es hingen keine Gardinen dahinter. Chant trat noch näher heran und blickte durchs Glas.
    Das Zersetzungswerk des Flohs blieb nicht ohne Folgen für seine Augen, aber er konnte noch immer besser sehen als die Blüte am Baum des Affen. Das Zimmer enthielt keine 51

    Einrichtungsgegenstände, präsentierte nur nackte Wände und einen kahlen Boden. Wenn seit Sartoris Zeit jemand in diesem Haus gewohnt hatte - und bestimmt war es nicht zweihundert Jahre lang leer gestanden -, so gab es jetzt keine Spuren seiner Präsenz mehr. Chant hob den bisher noch unbeeinträchtigten Arm und zertrümmerte die Scheibe mit dem Ellbogen. Dann zog er sich auf den Sims, stieß einige Scherben beiseite, kletterte durch die Öffnung und ignorierte mehrere Splitter, die sich ihm ins faulende Fleisch bohrten.
    Ganz deutlich erinnerte er sich an die innere Struktur des Hauses. Er hatte die Zimmer in Träumen durchstreift und gehört, wie ihn Sartori rief - komm hierher, nach oben, nach oben! -, zum Raum am Ende der Treppe, zum Arbeitszimmer des Maestros. Jenen Ort wollte Chant nun aufsuchen, doch mit jeder verstreichenden Sekunde offenbarte sein Körper neue Anzeichen von Atrophie. Die eine Hand, Ausgangspunkt der Fäulnis, wirkte wie verdorrt; den Fingern fehlten die Nägel, und Knochen kamen unter der verwelkten, aufgerissenen Haut zum Vorschein. Der Torso unter Chants Jacke sah vermutlich ähnlich aus - er spürte, wie sich bei jeder Bewegung Fleischfetzen davon lösten. Sicher dauerte es nicht mehr lange, bis er zu völliger Regungslosigkeit verurteilt war. Die Beine trugen das Gewicht des Körpers nur noch widerwillig, und seine Sinne trübten sich. Mühsam stapfte er die Treppe hoch und flehte dabei wie ein Vater, dessen Kinder ihn für immer verlassen wollten:
    »Bleibt bei mir. Nur noch ein bißchen länger. Bitte...«
    Auf diese Weise schaffte er es bis zum ersten Treppenabsatz, doch dort gaben die Knie nach, und er brach zusammen. Mit dem einen noch einsatzfähigen Arm zog er sich weiter.
    Chant hatte das letzte Stück der Treppe halb hinter sich gebracht, als er draußen das unverkennbare Pfeifen der Voider vernahm. Sie sind mir auch weiterhin durch die Nacht gefolgt, dachte er. Und sie haben mich zu schnell gefunden. Die Furcht, 52

    Sartoris Sanktuarium nicht rechtzeitig zu erreichen, spornte ihn an, und sein Körper versuchte, der neu erwachten Entschlossenheit zu gehorchen.
    Die Eingangstür wurde geöffnet. Erneut erklang das Pfeifen, noch lauter und durchdringender, als die Verfolger das Haus betraten. Chant verfluchte seinen Leib.
    »Laß mich nicht im Stich«, flüsterte er, und es fiel ihm schwer, diese Worte mit seiner angeschwollenen Zunge zu formen. »Beweg dich. Beweg dich!«
    Zitternd zog er sich über die letzten Stufen und schnaufte auf dem obersten Treppenabsatz, als er unten die Voider hörte.
    Dunkelheit umgab ihn, vielleicht die Finsternis der Blindheit.
    Es spielte keine Rolle: Chant kannte den Weg zum Arbeitszimmer des Maestros so gut wie seinen Körper, der nun kapitulierte. Auf Händen und Knien kroch er über altes, knarrendes Holz, und noch wildere Panik stieg in ihm hoch.
    Vielleicht war die Tür verschlossen; vielleicht mußte er vor ihr liegenbleiben, den Vollstreckern ausgeliefert. Er hob die Hand, keuchte und trachtete danach, den Knauf zu drehen. Der erste Versuch schlug fehl, aber der zweite führte zum erhofften Erfolg. Die Tür öffnete sich, und er sank nach vorn auf die Schwelle.
    Seine geschwächten Augen entdeckten Mondschein, der durch Fenster im Dach schimmerte. Ein Teil von Chant hatte geglaubt, daß ihn Sentimentalität zur Gamut Street führte, doch jetzt erkannte er den wahren Grund. Durch seine Rückkehr schloß sich der Kreis: Er befand sich nun wieder in jenem Zimmer, das ihm den ersten Blick in die Fünfte Domäne gewährt hatte. Dies war seine Wiege, sein Unterrichtsraum.
    Hier hatte er zum erstenmal die Luft Englands gerochen, im

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