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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Sie?«
    Sie sah sich um, davon überzeugt, daß die Frage gar nicht ihr galt, sondern jemand anderem. Doch abgesehen von der Fragestellerin - etwa sechzig, schlecht gekleidet, blaß - war niemand in der Nähe. Die Frau musterte Judith, und ein eigentümliches Feuer brannte dabei in ihren Augen.
    »Wer sind Sie?« ertönte es erneut. Schaumartiger Speichel klebte an Lippen, deren Asymmetrie einen früheren Schlaganfall vermuten ließen.
    Die beim Turm erlebte Enttäuschung hatte Judith bereits verärgert, und deshalb war sie nicht in der richtigen Stimmung, um dieser Verrückten mit höflicher Geduld zu begegnen. Sie kehrte ihr wortlos den Rücken zu und ging weiter.
    »Wissen Sie nicht, daß Gefahr von ihnen droht?« rief ihr die Frau nach.
    Jude blieb stehen und drehte sich um. »Wen meinen Sie?«
    »Die Leute im Turm. Die Tabula Rasa. Was haben Sie gesucht?«
    »Nichts.«
    »Offenbar sind Sie sehr bemüht gewesen, nichts zu finden.«
    »Spionieren Sie für die Leute im Turm?«
    Die Frau gab ein Geräusch von sich, das Judith für ein 474

    Lachen hielt.
    »Sie wissen nicht einmal, daß ich noch lebe«, erwiderte sie.
    Und dann, zum dritten Mal:
    »Wer sind Sie?«
    »Ich heiße Judith.«
    »Ich bin Clara Leash«, sagte die Frau und warf einen kurzen Blick zum Turm. »Gehen Sie weiter. Auf halbem Weg nach Hill gibt es eine Kirche. Dort treffen wir uns.«
    »Was ist los?«
    »Nicht hier. Bei der Kirche.«
    Unmittelbar im Anschluß an diese Worte wandte sich die Frau um und eilte fort. Claras offensichtliche Unruhe hätte Judith davon abhalten sollen, ihr zu folgen. Doch zwei Worte veranlaßten sie, sich zur Kirche zu begeben und dort auf Clara Leash zu warten. Sie lauteten Tabula Rasa. Seit ihrem Gespräch mit Charlie bei der Zuflucht hatte sie diesen Namen nicht mehr gehört, und sie erinnerte sich nun an Estabrooks Hinweis darauf, daß eigentlich er Mitglied jener Gruppe sein sollte. Damals hatte alles wie beiläufig geklungen, und die folgenden, von Gewalt geprägten Geschehnisse hinterließen bei Judith einen wesentlich nachhaltigeren Eindruck. Jetzt trachtete sie danach, sich Einzelheiten der Konversation mit Oscars Bruder ins Gedächtnis zurückzurufen. Es war dabei um die ›Beschmutzung englischen Bodens‹ gegangen, und als sie Charlie um eine Erklärung bat, gab er eine scherzhafte Antwort. Jetzt weiß ich, was für ein Schmutz gemeint ist, dachte sie. Magie. In dem unscheinbaren Turm hatte jemand den Tod jener Männer und Frauen beschlossen, deren Leichen man in der Heide und in U-Bahn-Tunneln fand. Kein Wunder, daß Godolphin abnahm und im Schlaf schluchzte: Er gehörte einer geheimen Gruppe an, deren erklärtes Ziel darin bestand, die Repräsentanten einer anderen geheimen Gruppe umzubringen, die ihn ebenfalls zu ihren Mitgliedern zählte. Er diente gleichzeitig zwei Herren, einerseits der Magie und andererseits 475

    ihren Gegnern. Mitgefühl regte sich in Judith. Oscar liebte sie, und er steckte in einer Zwickmühle, benötigte ihre Hilfe.
    Darüber hinaus bot er ihr eine Möglichkeit, nach Yzordderrex zu gelangen - ohne ihn bekam sie vielleicht nie Gelegenheit, die Wunder von Imagica zu sehen. Sie brauchten sich gegenseitig, lebend und gesund.
    Bei der Kirche mußte sie eine halbe Stunde warten, bis die sehr besorgt wirkende Clara Leash eintraf.
    »Drinnen«, sagte sie. »Hier draußen fallen wir zu sehr auf.«
    Sie betraten das Gebäude und nahmen in der Nähe des Altars Platz, um nicht von den drei Betenden gehört zu werden, die weiter hinten saßen, obwohl auch dieser Ort sich kaum für ein leises Gespräch eignete: Selbst Flüstern reichte durch den ganzen Saal, wenn auch die Silben unterwegs ihren Sinn verloren. Zuerst erstreckte sich eine Kluft aus Argwohn zwischen den beiden so unterschiedlichen Frauen. Um sich vor Claras durchdringendem Blick zu schützen, wandte sich Judith zu Anfang halb von ihr ab. Sie sah Clara erst an, als die Phase des Drumherumredens zu Ende ging, als sie es wagte, die wichtigste Frage zu stellen:
    »Was wissen Sie von der Tabula Rasa?«
    »Alles, was es zu wissen gibt«, antwortete Clara. »Ich war über viele Jahre hinweg Mitglied der Gruppe.«
    »Und jetzt hält man Sie für tot?«
    »Eine Annahme, die gar nicht so verkehrt ist: Mir bleiben nur noch einige Monate. Deshalb muß ich meine Informationen unbedingt weitergeben...«
    »An mich?«
    »Kommt darauf an. Zuerst möchte ich erfahren, was Sie zum Turm führte.«
    »Ich habe nach einem Eingang gesucht«, sagte

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