Imagica
ihn unverzeihlich gewesen. Er hörte einfach nur stumm zu.
Und schwieg in der Hoffnung, daß Jude nicht noch einmal auf dieses Thema zu sprechen käme. Doch sie weigerte sich, ihm einen derartigen Wunsch zu erfüllen. Der Beginn ihrer körperlichen Beziehung befreite sie von der seltsamen Passivität, die sie seit der ersten Begegnung gespürt hatte. Sie wußte nun um Godolphins Verwundbarkeit - seine Verletzung war ein klarer Beweis dafür. Sie hatte gesehen, wie er sich der mangelnden Selbstbeherrschung schämte. Sie kannte auch den anderen Oscar, den zärtlichen, auf harmlos-entzückende Weise perversen Liebhaber. Ihre Gefühle für ihn blieben intensiv, doch die neue Perspektive zerriß den Schleier gedankenloser Hingabe. Wenn sie jetzt sein Begehren sah - nach der ersten gemeinsamen Nacht zeigte sich die Lust häufig in seinem Gesicht -, so verbarg sich hinter ihrem Lächeln die frühere Judith, selbständig und furchtlos. Sie beobachtete und wartete in dem Wissen, daß seine Leidenschaft ihr immer mehr Macht über ihn gab. Die Anspannung zwischen diesen beiden Hälften 469
ihres Selbst - hier ein Rest der gehorsamen Mätresse, die Oscars Präsenz zunächst in ihr geweckt hatte; dort die selbstbewußte Frau, die entschlossen ihre Ziele anstrebte -
vertrieb die letzten Überbleibsel der Verträumtheit in ihr, woraufhin das Interesse an den Domänen wuchs. Also zögerte sie nicht, Godolphin an sein Versprechen zu erinnern. Bei den ersten beiden Gelegenheiten reagierte er mit höflichen Ausflüchten, um Judith zu entmutigen, über diese Angelegenheit zu reden; beim dritten Mal bewirkte ihre Hartnäckigkeit sowohl ein tiefes Seufzen als auch einen gen Himmel gerichteten Blick.
»Warum liegt dir soviel daran?« fragte Oscar. »Yzordderrex ist eine überfüllte Jauchegrube. Alle anständigen Männer und Frauen, die dort leben müssen, sehnen sich nach England.«
»Vor einer Woche hast du gesagt, daß du dich vielleicht für immer in jener Stadt niederläßt. Du bleibst nur hier, weil du so großen Gefallen an Kricket findest.«
»Du hast ein gutes Gedächtnis.«
»Jedes Wort von dir ist mir wichtig«, erwiderte Judith nicht ohne eine gewisse Ironie.
»Nun, die Situation hat sich geändert. Alles deutet auf eine bevorstehende Revolution hin. Wenn wir uns jetzt nach Yzordderrex begäben... Wir müßten damit rechnen, sofort hingerichtet zu werden.«
»Du hast die Stadt ziemlich oft besucht«, sagte Jude.
»Ebenso wie Hunderte von anderen Reisenden. Das stimmt doch, oder? Du bist nicht der einzige. Dazu dient die Magie schließlich - um zwischen den Domänen zu wechseln.« Als Godolphin schwieg, fügte sie hinzu: »Ich möchte Yzordderrex sehen, Oscar. Und wenn du dich weigerst, mir die Stadt zu zeigen..., dann suche ich einen Magier, der bereit ist, mich zu begleiten.«
»Sag das nicht einmal im Scherz.«
»Ich meine es ernst«, betonte Judith. »Du bist bestimmt nicht 470
der einzige, der den Weg kennt.«
»Mag sein.«
»Es gibt andere. Und ich werde sie suchen, wenn mir keine Wahl bleibt.«
»Sie sind alle verrückt«, murmelte Oscar. »Oder tot.«
»Ermordet?« Das Wort platzte aus Jude heraus, bevor sie seinen vollen Bedeutungsinhalt begriff.
Godolphins Gesicht - die bewußte Leere darin - bestätigte Judiths Verdacht. Die Leichen in den Fernsehnachrichten... das waren nicht die Körper von ausgeflippten Hippies und sexbesessenen Satanisten. Es handelte sich vielmehr um Leute mit wahrer magischer Macht, um Männer und Frauen, die jene andere Welt gesehen hatten: Imagica.
»Wer ist der Mörder, Oscar? Du kennst ihn, nicht wahr?«
Er stand auf und ging so rasch auf Jude zu, daß sie befürchtete, er wolle sie schlagen. Statt dessen sank er auf die Knie, griff nach ihren Händen und durchbohrte sie mit einem fast hypnotischen Blick.
»Hör mir gut zu«, sagte er in beschwörendem Tonfall. »Ich muß bestimmte Familienpflichten wahrnehmen - was ich sehr bedauere. Man verlangt Dinge von mir, die ich unter anderen Umständen ablehnen würde...«
»Dies alles steht mit dem Turm in Zusammenhang, stimmt's?«
»Ich möchte lieber nicht darüber sprechen.«
»Wir sprechen bereits darüber, Oscar.«
»Es ist eine sehr persönliche und heikle Sache. Ich habe dabei mit Personen zu tun, denen jeder Sinn fürs Moralische fehlt. Wenn sie wüßten, daß du auch nur etwas von mir erfahren hast... In dem Fall wären wir beide dem Tode näher als dem Leben. Ich bitte dich inständig: Behalte alles für
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