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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Judith.
    »Sind Sie schon einmal in seinem Innern gewesen?«
    »Ja und nein.«
    »Wie meinen Sie das?«
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    »Mein Geist hat sich dort aufgehalten, jedoch nicht der Körper«, erwiderte Jude. Sie erwartete, wieder das seltsame Lachen von Clara zu hören, aber statt dessen entgegnete die Frau:
    »In der Nacht des einunddreißigsten Dezember.«
    »Lieber Himmel! Woher wissen Sie das?«
    Clara Leash hob die Hand und berührte Judith an der Wange.
    Ihre Finger waren eiskalt.
    »Zuerst möchte ich Ihnen schildern, wie ich die Tabula Rasa verließ.«
    Zwar erzählte sie ihre Geschichte ohne Ausschmückungen, aber sie nahm trotzdem ziemlich viel Zeit in Anspruch, da bestimmte Einzelheiten erläutert werden mußten - andernfalls wäre Judith kaum in der Lage gewesen, ihre Bedeutung zu verstehen. Clara stammte wie Oscar von einem Gründungsmitglied der Tabula Rasa ab, und man lehrte sie schon früh die elementaren Prinzipien: Magie bedrohte England, hätte die Nation fast in den Untergang getrieben; es mußte unbedingt verhindert werden, daß irgendwelche Kulte oder Individuen neue Generationen in den unheilvollen Praktiken unterrichteten. Als Judith fragte, wann und wie England fast dem Verderben anheimgefallen wäre, antwortete Clara mit dem Hinweis, das sei eine andere Geschichte. Im kommenden Sommer waren genau zweihundert Jahre seit dem fatalen Fehlschlag des Rituals vergangen, das die Erde mit vier anderen Dimensionen zusammenführen sollte.
    »Mit den Domänen.« Aus Judiths Flüstern wurde bei diesen Worten ein kaum mehr verständliches Raunen.
    »Sagen Sie es lauter«, erwiderte Clara. »Domänen!
    Domänen!« Sie sprach jetzt mit normaler Lautstärke, und nach dem Wispern klang dies wie ein Schrei. »Es ist zu lange ein Geheimnis gewesen«, fügte sie hinzu. »Und dadurch wird der Feind nur noch mächtiger.«
    »Wer ist der Feind?«
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    »Es sind so viele...«, sagte Clara. »In dieser Domäne sind es die Tabula Rasa sowie ihre Helfer. Und daran mangelt es nicht
    - an Helfern. Einflußreiche Leute, in den höchsten Ämtern.«
    »Tatsächlich?« fragte Judith erstaunt.
    »Solche Freunde findet man leicht, wenn man von Königsmachern abstammt. Und wenn Beziehungen versagen..., dann erkauft man sich einen Weg. So etwas geschieht dauernd.«
    »Und in den anderen Domänen?«
    »Es ist jetzt schwer, Nachrichten zu erhalten. Ich kannte zwei Frauen, die regelmäßig in die zusammengeführten Domänen reisten. Eine wurde in der vergangenen Woche tot aufgefunden; die andere verschwand spurlos. Vielleicht hat man sie ebenfalls ermordet...«
    »Dann wäre die Tabula Rasa für ihren Tod verantwortlich.«
    »Sie wissen eine Menge, nicht wahr? Woher?«
    Diese Frage war zu erwarten gewesen, und Judith überlegte, wie sie darauf reagieren sollte. Ihr Vertrauen zu Clara Leash wuchs, doch es stand eine Menge auf dem Spiel. Noch vor zwei Stunden hätte sie ihre jetzige Gesprächspartnerin für eine Irre gehalten: Handelte sie nicht voreilig, wenn sie ihr ein Geheimnis anvertraute, das zu Oscars Todesurteil werden konnte, wenn die Tabula Rasa davon erfuhr?
    »Meine Quelle kann ich nicht preisgeben«, sagte Jude. »Die betreffende Person ist ohnehin schon in Gefahr.«
    »Sie sind noch immer voller Argwohn.« Clara hob die Hand, um einem Einwand zuvorzukommen. »Nein, widersprechen Sie nicht! Sie mißtrauen mir nach wie vor, und ich kann Ihnen deshalb keinen Vorwurf machen. Wie dem auch sei... Bitte beantworten Sie folgende Frage: Stammen Ihre Informationen von einem Mann?«
    »Ja. Warum?«
    »Sie haben mich gefragt, wer der Feind sei, und meine Antwort lautete: in dieser Domäne die Tabula Rasa. Aber es 478

    gibt noch andere Feinde, und der offensichtlichste ist das andere Geschlecht.«
    »Was heißt das?«
    »Männer, Judith. Die Zerstörer.«
    »He, warten Sie...«
    »Früher gab es Göttinnen in den Domänen. Mächte, die unser Geschlecht vertraten, seine Rolle im kosmischen Drama unterstützten. Jetzt sind sie alle tot, Judith. Und sie starben nicht an Altersschwäche. Der Feind brachte sie um.«
    »Gewöhnliche Männer töten keine Göttinnen.«
    »Gewöhnliche Männer dienen außergewöhnlichen Männern.
    Außergewöhnliche Männer empfangen Visionen von den Göttern. Und Götter töten Göttinnen.«
    »Das ist zu einfach. Es klingt wie eine Lektion in der Schule.«
    »Eine Lektion, die Sie lernen sollten. Oder beweisen Sie das Gegenteil, wenn Sie dazu imstande sind. Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar, glauben Sie mir. Ich

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