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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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würde gern feststellen, daß sich die Göttinnen irgendwo verstecken...«
    »So wie die Frau unterm Turm?«
    Zum erstenmal seit Beginn des Gesprächs fehlten Clara die Worte. Sie starrte nur stumm und überließ es Judith, die Stille zu beenden.
    »Als ich vorhin erwähnte, daß mein Geist im Turm gewesen sei... Nun, es stimmt nicht ganz. Die psychische Reise führte unter den Turm. Dort gibt es ausgedehnte Kellergewölbe, die eine Art Labyrinth bilden, und die meisten von ihnen sind mit Büchern gefüllt. Hinter einer der Mauern liegt eine Frau.
    Zuerst hielt ich sie für tot, doch dieser Eindruck täuschte. Sie mag dem Tode nahe sein, aber sie hat sich einen Rest von Leben bewahrt.«
    Clara war sichtlich erschüttert.
    »Ich dachte immer, daß außer mir niemand von ihr weiß«, murmelte sie.
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    »Haben Sie eine Ahnung, was es mit ihr auf sich hat?« fragte Judith.
    »Ich denke schon.« Clara holte tief Luft und setzte die unterbrochene Geschichte fort, um zu erklären, unter welchen Umständen sie die Tabula Rasa verlassen hatte.
    Was die Bibliothek unter dem Turm betraf... Angeblich war es eine auf der ganzen Welt einzigartige Sammlung von Büchern und Manuskripten, die sich auf okkulte Wissenschaften - beziehungsweise Legenden und das Wissen von Imagica - bezogen. Die Gründungsmitglieder der Tabula Rasa hatten sie zusammengestellt, vor allem Roxborough und Godolphin, um unschuldige Engländer vor magischen Dingen zu schützen. Allerdings machte man sich damals nicht die Mühe, einen Katalog anzufertigen, die literarischen Schätze in einer Liste zu erfassen. Nein: Generationen der Tabula Rasa überließen sie Dunkelheit und Fäulnis.
    »Ich beschloß, einen Schlußstrich unter dieser Tradition aus Gleichgültigkeit und Vernachlässigung zu ziehen. Ob Sie's glauben oder nicht: Einst habe ich großen Wert auf Ordnung gelegt.
    Eine Eigenschaft, die auf meinen Vater zurückgeht - er war beim Militär. Nun, zunächst wurde ich von zwei anderen Mitgliedern der Gruppe bewacht. So verlangten es die Vorschriften. Kein Angehöriger der Tabula Rasa darf die Bibliothek allein aufsuchen, und wenn jemand glaubt, daß eine andere Person zu großes Interesse an den Büchern zeigt oder gar unter ihrem Einfluß steht..., dann kann der oder die Verdächtige von der Gruppe vor ›Gericht‹ gestellt, verurteilt und hingerichtet werden. Ich glaube aber, dazu ist es noch nie gekommen. Viele Bücher sind in Latein geschrieben, und wer beherrscht diese Sprache heute noch? Was die übrigen Werke betrifft... Während Ihres geistigen Streifzugs durch das Kellerlabyrinth haben Sie es selbst gesehen: Die Bände vermodern. Trotzdem: Ich wollte Ordnung schaffen, so wie es 480

    meinem Vater gefallen hätte. Alles sollte übersichtlich sein.
    Meine beiden Aufpasser hatten es natürlich bald satt und ließen mich allein. Eines Nachts spürte ich, wie etwas oder jemand an meinen Gedanken zerrte, sie mir einzeln - wie Haare - aus dem Kopf zupfte. Ich vermutete, daß es an den Büchern lag, daß mich die in ihnen niedergeschriebenen Wörter in den Bann schlugen, und ich versuchte, die Bibliothek zu verlassen - aber eigentlich wollte ich gar nicht gehen. Fünfzig Jahre lang war ich Daddys unterdrückte kleine Tochter gewesen und hatte genug. Das wußte auch Celestine...«
    »So heißt die Frau hinter der Mauer?« erkundigte sich Judith.
    »Ich glaube, ja.«
    »Wissen Sie, wer sie ist?«
    »Dazu komme ich gleich«, sagte Clara. »Roxboroughs Haus stand einst dort, wo sich jetzt der Turm erhebt. Die unterirdischen Gewölbe sind die Keller jenes Hauses. Celestine war - und ist es noch immer - Roxboroughs Gefangene. Er mauerte sie ein, weil er es nicht wagte, sie zu töten. Sie sah das Gesicht von Hapexamendios, des Gottes der Götter. Sie war verrückt, aber es wohnte auch etwas Heiliges in ihr: Nicht einmal Roxborough wagte es, sie anzurühren.«
    »Woher wissen Sie das alles?«
    »Roxborough schrieb ein Geständnis, einige Tage vor seinem Tod. Ihm war klar: Die eingemauerte Frau würde ihn um Jahrhunderte überleben. Er muß auch gewußt haben, daß früher oder später jemand die Ruhende finden würde. Deshalb diente seine Beichte auch als Warnung, die insbesondere nichtsahnenden Männern galt. Begrabt sie erneut, schrieb er.
    Begrabt sie im tiefsten aller tiefen Abgründe...«
    »Wo haben Sie das Geständnis gefunden?«
    »In der Mauer. In jener Nacht, als ich allein war. Ich nehme an, Celestine hat mir den Weg gewiesen, indem sie Gedanken

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