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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Als der Autokrat in die Dritte Domäne kam - er hatte Yzordderrex bereits ins Fundament seiner Diktatur verwandelt -, war die Felssäule das mächtigste Objekt in ganz Imagica. Sofort entwickelte er einen Plan, kehrte nach Yzordderrex zurück und ließ seinen dortigen Palast erweitern. Der Zweck jener zusätzlichen architektonischen Merkmale offenbarte sich erst zwei Jahre 520

    später, als der Autokrat mit einer für Staatsstreiche typischen Schnelligkeit handelte: Er ließ den Zapfen zur Stadt transportieren und brachte ihn in einem Palastturm unter, noch bevor das Blut derjenigen trocknete, die vielleicht gegen dieses Sakrileg protestiert hätten.
    Über Nacht veränderte sich die Geographie von Imagica: Yzordderrex wurde zum Herzen der Domänen. Fortan gab es keine Macht mehr - ob weltlicher oder sakraler Natur -, deren Provenienz nicht auf die Stadt zurückgegangen wäre. Fortan gab es keine Wegweiser in den zusammengeführten Domänen, auf denen der Name ›Yzordderrex‹ fehlte. Fortan gab es keinen Bittsteller oder Büßer, der es versäumte, in der Hoffnung auf Heil und Rettung zum neuen Mittelpunkt der Welten zu blicken. Noch immer betete man im Namen des Unerblickten -
    hier und dort segnete man sogar mit den verbotenen Namen der Göttinnen -, aber Yzordderrex herrschte nun über Imagica. Der Autokrat war der neue Gebieter, der Zapfen sein Phallus.
    Einhundertneunundsiebzig Jahre waren vergangen, seit die Ödnis von Kwem ihr Wunder verloren hatte, doch der Autokrat pilgerte noch immer in die Wüste, wenn er allein sein wollte.
    Dann suchte er einen kleineren Palast auf - er markierte jene Stelle, an der einst die Säule gestanden hatte, und im Vergleich mit dem Prachtbau von Yzordderrex erschien er geradezu spartanisch -, um dort über die schwere Bürde der absoluten Macht nachzudenken. In solchen Fällen überließ er die Herrschaft den Generälen des militärischen Oberkommandos -
    und seiner früher geliebten Königin Quaisoir. Seit einiger Zeit fand sie (im Gegensatz zu ihm) immer mehr Gefallen an Repression und Unterdrückung, und er erwog die Möglichkeit, sich auf Dauer in den kleineren Palast zurückzuziehen und die häufig recht blutigen Regierungsgeschäfte seiner Gemahlin anzuvertrauen. Er wußte jedoch, daß es sich um einen Wunsch handelte, den er sich nicht erfüllen konnte. Zwar regierte er unsichtbar über Imagica - außerhalb des aus etwa zwanzig 521

    Personen bestehenden engsten Mitarbeiterkreises kannte ihn niemand; man hätte ihn nur für einen gewöhnlichen Weißen gehalten -, aber der Aufstieg von Yzordderrex war nur durch seine Visionen möglich gewesen, und dafür gab es keinen Ersatz.
    An Tagen wie diesem, wenn kalter Wind vom Fastenweg wehte und um die Türme des Palastes von Kwem seufzte, bedauerte der Autokrat noch mehr als sonst, ein Gefangener seiner Pflichten zu sein. Er stellte sich vor, sein Spiegelbild nach Yzordderrex zu schicken, während das reale Selbst an diesem Ort verweilte und sich Erinnerungen an eine ferne Vergangenheit hingab. England im Sommer. Die regennassen Straßen von London. Außerhalb der Stadt Wiesen mit summenden Bienen - eine Szene des Friedens. Danach sehnte er sich zurück, wenn Melancholie sein Empfinden bestimmte.
    Derartige Launen dauerten natürlich nicht lange. Er war viel zu sehr Realist und verlangte auch von seinem Gedächtnis Wahrheit. Ja, es hatte tatsächlich geregnet, aber mit einer Wucht, die Früchte von Zweigen riß oder an ihren Ästen zerfetzte. Und die friedliche Ruhe der Wiesen... Dahinter verbarg sich die Stille von Schlachtfeldern. Das Summen stammte nicht etwa von Bienen, sondern von Fliegen, die ihre Eier in verwesendes Fleisch legen wollten.
    In jenem Sommer hatte sein Leben begonnen, und der Anfang stand nicht unter dem Zeichen von Liebe, trug vielmehr den Schatten der Apokalypse. Die Prediger im Park berichteten von Offenbarungen, und alle Huren in der Drury Lane behaupteten, den Teufel beim Tanz auf mitternächtlichen Dächern beobachtet zu haben. So etwas konnte nicht ohne Einfluß auf ihn bleiben. Die Furcht vor dem unmittelbar bevorstehenden Weltuntergang steckte ihn an, weckte Sehnsucht nach Ordnung und Gesetz, nach Macht und Empire.
    Eine Zeit des Entsetzens hatte ihn geprägt. Wenn er nicht davor zurückschreckte, die Mittel von Gewalt und Grausamkeit zu 522

    verwenden, um bestimmte Ziele zu erreichen - war das seine Schuld oder die der Vergangenheit?
    Die Tragödie lag nicht beim Leid, das sich nie ganz aus

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