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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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törichten Vorstellung hin, daß es auch in Zukunft dabei bleiben konnte. Es ging zu Ende, bald.
    Der Mantel hielt zwar die Kälte vom Leib des Autokraten fern, aber er schauderte trotzdem. Seit langer Zeit lebte er und kam sich vor wie jemand, der immer im Licht der Mittagssonne wandelte, so daß sich der Schatten weder vor noch hinter ihm erstreckte. In seinem Fall sahen sich Propheten außerstande, irgend etwas vorherzusagen, und niemand hatte die Möglichkeit, ihm Verbrechen zur Last zu legen. Er war unberührt von allem. Doch nicht mehr lange. Früher oder später traf er sich mit seinem Schatten - das ließ sich gar nicht vermeiden -, und dann würde sich die Last von tausend Prophezeiungen und Anklagen auf sie beide herabsenken.
    Er zog die Seide vom Gesicht und bot es dem kalten Wind dar. Es hatte keinen Sinn, noch länger an diesem Ort zu verweilen. Schon in einigen Stunden war er vielleicht nicht mehr in der Lage, Yzordderrex vor der Zerstörung zu bewahren.
    2
    Man stelle sich vor, wie jene himmlischen Architekten, die das Gebirge der Jokalaylau geschaffen hatten, ein neues Projekt begannen. Sie setzten ihren größten Berg zwischen Wüste und Meer und kehrten anschließend jeden Abend zurück, hundert Jahre lang, um Stufen und Terrassen in die Vorberge zu meißeln, bis hin zum hohen Gipfel. Man stelle sich vor, wie sie Wohnstätten aus dem Fels schlugen, wie sie prächtige Plätze schufen, Straßen, Bastionen und Pavillons, wie sie im Innern des Berges ein Feuer installierten, das immer schwelte, jedoch nie richtig brannte, wie sie ihr Werk anschließend mit allen 528

    Arten von Leben füllten... Nirgendwo existierte ein solches Meisterwerk, Yzordderrex blieb in ganz Imagica einzigartig.
    Gentle und seine Begleiter sahen die Stadt, als sie den Damm überquerten, der wie ein geschickt dorthin geworfener Stein über das Delta des Flusses Noy hinwegreichte, weiter unten rauschten die Fluten von zwölf reißenden Strömen zum Meer. Sie trafen am frühen Morgen ein: Der vom Fluß aufsteigende Nebel und das graue Licht der Dämmerung verhüllten Yzordderrex vor ihren Blicken, bis sie sich in unmittelbarer Nähe des Ziels befanden. Dann hoben sich die Nebelschwaden, ließen Himmel, Wüste und Meer auch weiterhin nur erahnen - aber plötzlich schien sowieso die ganze Welt aus der Stadt zu bestehen.
    Während sie den Fastenweg beschritten, von der Dritten in die Zweite Domäne wechselten, erzählte Huzzah von Yzordderrex; ihr Wissen stammte aus den Büchern des Vaters.
    Ein Autor hatte die Stadt als heilige Entität beschrieben, und Gentle hielt das für lächerlich, bis er sie sah. Daraufhin begriff er, warum man diesen gewaltigen Ameisenhaufen für eine urbane Gottheit halten konnte. Yzordderrex war es durchaus wert, angebetet zu werden. Millionen zeigten jeden Tag das höchste Maß an Verehrung, indem sie auf oder gar im Leib des Herrn lebten. Ihre kleinen Häuser klebten wie in Panik geratene Kletterer an den Klippen überm Hafen, drängten sich auf den Plateaus, die sich terrassenförmig nach oben erstreckten.
    Manche Hütten erhoben sich so nahe am Rand, daß sie von unten abgestützt werden mußten - und die Stützen dienten anderen Wesen als Behausungen, Geschöpfen, die mit Flügeln ausgestattet waren oder dazu neigten, ständig den Tod herauszufordern. Wohin man auch blickte: Überall wimmelte es von Leben - in den steilen Straßen, auf allen Stufen und Felsvorsprüngen. Gentle beobachtete baumlose Avenuen, gesäumt von Villen; er sah Tore, die zu schattigen Passagen führten, zu Tunneln und Bogengängen, bis hin zu den sechs 529

    Gipfeln der Stadt. Auf dem höchsten stand der Palast des Autokraten von Imagica. Dort präsentierte sich eine andere Art von Vielfalt: Der Palast hatte mehr Kuppeln und Türme als Rom, und ihre Ausschmückungen fielen schon von weitem auf.
    Der Zapfenturm überragte alle, und er war ebenso schlicht wie die anderen barock. Und noch weiter oben... Am weißen Himmel der Stadt hing der Komet, der dieser Domäne fast endlose Tage und lange Abenddämmerungen bescherte. Der Stern von Yzordderrex, Giess genannt, der Verdorrer.
    Ein oder zwei Minuten lang blieben die Reisenden stehen, um das Panorama zu bewundern. Tausende von Arbeitern, die in der Stadt keine Unterkunft gefunden hatten, waren nun unterwegs, um mit dem Tagewerk zu beginnen. Als Zacharias, Pie und Huzzah das Ende des Damms erreichten, wurden sie Teil eines aus Wagen, Fahrrädern, Rikschas und Fußgängern bestehenden

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