Imagica
staubigen Durcheinanders, das Yzordderrex entgegenstrebte. Drei inmitten von Tausenden. Ein dürres Mädchen, das jetzt glücklich lächelte. Ein Mensch, irgendwann einmal attraktiv, jetzt blaß und hohlwangig, das halbe Gesicht hinter einem struppigen braunen Bart verborgen. Und ein Eurhetemec-Mystif, in den Augen subtilen Kummer. Die Menge trug sie mit sich, und sie leisteten keinen Widerstand, näherten sich einem Ort, den zahllose Personen vor ihnen aufgesucht hatten - dem Bauch des Stadtgottes Yzordderrex.
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KAPITEL 30
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Nach Clara Leashs Ermordung kehrte Judith als Gefangene in Godolphins Haus zurück. Dowd schloß sie in dem Raum ein, der ihr zu Anfang als Schlafzimmer gedient hatte, und dort wartete sie auf Oscar. Als er schließlich eintraf, sprach er eine halbe Stunde lang mit seinem Assistenten (Jude hörte die murmelnden Stimmen, verstand jedoch kein Wort), bevor er zu ihr kam und sofort darauf hinwies, daß er die jüngsten Ereignisse nicht mit ihr erörtern wolle. Ob ihr klar sei, daß sie nicht nur gegen seine Interessen gehandelt hatte, sondern auch gegen ihre eigenen? Er brauche Zeit, um über die Konsequenzen für sie beide nachzudenken.
»Ich habe dir vertraut«, sagte er. »Ich habe dir mehr vertraut als irgendeiner anderen Frau in meinem Leben. Und du hast mich hintergangen, und zwar genau so, wie es Dowd vorausgesagt hat. Ich komme mir wie ein Narr vor. Und ich fühle mich von dir verletzt.«
»Wenn du mir gestattest, dir alles zu erklären...«, begann Judith.
Godolphin hob sofort die Hand. »Ich will nichts davon hören. Vielleicht unterhalten wir uns in einigen Tagen darüber.
Jetzt ist es noch zu früh.«
Er ließ sie allein, und sofort hatte Jude das Gefühl, etwas Kostbares verloren zu haben. Gleichzeitig brannte Zorn in ihr.
Glaubte er etwa, daß ihre Empfindungen ihm gegenüber so banal waren, daß sie nicht darüber nachdachte, welche Folgen sich durch ihr Verhalten für sie beide ergaben? Schlimmer noch: Hatte Dowd ihm eingeredet, daß von Anfang an ein Plan dahintergesteckt habe, daß Verführung und Leidenschaft nur Mittel zum Zweck darstellten? Diese Möglichkeit erschien ihr 531
wahrscheinlicher als die erste, doch sie befreite Oscar nicht von Schuld - er hätte ihr die Chance geben müssen, sich zu rechtfertigen.
Drei Tage lang blieb sie allein. Dowd brachte ihr die Mahlzeiten, und die ganze Zeit über weilte sie in ihrem Zimmer. Sie hörte, wie Godolphin kam und ging; gelegentlich vernahm sie Gesprächsfetzen im Treppenhaus und zog aus ihnen den Schluß, daß die Säuberungsaktion der Tabula Rasa eine kritische Phase erreichte. Mehrmals dachte Judith daran, daß sie durch den Kontakt mit Clara Leash - durch ihre gemeinsame Absicht - zu einem potentiellen Opfer wurde.
Versuchte Dowd, Oscar davon zu überzeugen, daß man sie ebenfalls eliminieren müsse? Aber vielleicht war das nur Paranoia. Allerdings, wenn er sie noch immer liebte - wieso hielt er sich dann von ihr fern? Sehnte er sich nicht nach ihr, so wie sie sich nach ihm? Wollte er sie nicht mehr im Bett, wenn auch nur dazu, um seine körperlichen Gelüste zu befriedigen?
Mehrmals bat sie Dowd, Oscar auszurichten, daß sie mit ihm sprechen wolle. Der junge Mann zeigte jedoch die Gleichgültigkeit eines Kerkermeisters, der sich täglich um tausend Häftlinge kümmern mußte; er meinte, er werde Judiths Anliegen an Mr. Godolphin herantragen, bezweifle jedoch, daß der Hausherr irgend etwas mit ihr zu tun haben wolle. Jude konnte kaum feststellen, ob Dowd von Oscar auf ihren Wunsch hingewiesen wurde oder nicht. Was auch immer der Fall sein mochte: Man überließ sie auch weiterhin der Einsamkeit. Bald befürchtete sie, für immer gefangen zu sein, wenn sie nicht etwas unternahm, um die Situation zu verändern.
Ihr Plan war ganz einfach. Nach einer der Mahlzeiten behielt sie ein Messer, und damit gelang es ihr, die Schlafzimmertür zu öffnen. Nicht das Schloß hatte sie daran gehindert, den Raum zu verlassen, sondern Dowds Warnung: Die gefräßigen Käfer, denen Clara zum Opfer gefallen war, würden auch ihr den Tod bringen, wenn sie zu fliehen versuchte.
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Judith schlich in den Korridor und zögerte auf dem Treppenabsatz. Sie hatte ganz bewußt gewartet, bis Oscar heimkehrte, vielleicht in der naiven Annahme, daß er ihr Schutz gewähren würde, wenn Dowd sie bedrohte. Einige Sekunden lang spielte sie mit dem Gedanken, sich hier und jetzt an Godolphin zu wenden, doch dann entschied sie sich dagegen.
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