Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
Vom Netzwerk:
Zuerst mußte sie das Haus verlassen und wieder völlig frei sein - dann war es sicher leichter, die Situation mit Oscar zu klären. Wenn er anschließend noch immer jeden Kontakt ablehnte... Dann wußte sie, daß Dowd das emotionale Band zwischen ihnen zerrissen hatte. Was für sie bedeutete, daß sie einen anderen Weg nach Yzordderrex suchen mußte.
    Leise und vorsichtig stieg sie die Treppe hinunter, hörte Stimmen vor dem Haus und beschloß, das Gebäude durch die Küche zu verlassen. Wie üblich brannte überall das Licht, und in der Küche hielt sich niemand auf. Rasch durchquerte sie das Zimmer und eilte zur Tür, die über zwei Riegel verfügte, oben und unten. Jude bückte sich, um den unteren zurückzuschieben, und als sie sich wieder aufrichtete...
    »Auf diese Weise entkommen Sie nicht«, sagte Dowd.
    Sie drehte sich um und sah ihn am Tisch stehen, ein Tablett mit Tellern in den Händen. Solange er diese Last trug, war noch nicht alles verloren. Judith lief in Richtung Flur, aber Dowd reagierte mit geradezu verblüffender Schnelligkeit, stellte das Tablett ab und trat ihr entgegen. Sie wich so hastig vor ihm zurück, daß sie an den Tisch stieß. Ein Glas kippte, fiel zu Boden und zerbrach mit lautem Klirren.
    »Oh, sehen Sie nur, was Sie angerichtet haben«, sagte Dowd mit aufrichtigem Ärger. Er ging in die Hocke und machte Anstalten, Scherben und Splitter einzusammeln. »Dieses Glas gehörte der Familie seit vielen Generationen. Eigentlich hätte ich von Ihnen erwartet, daß Sie auf so etwas Rücksicht nehmen.«
    Zwar war Judith nicht in der richtigen Stimmung, um über 533

    Gläser zu diskutieren, aber sie verzichtete darauf, Dowds Frage zu ignorieren. Wenn sie laut sprach, weckte sie damit vielleicht Oscars Aufmerksamkeit.
    »Warum sollte mir irgend etwas an einem Glas gelegen sein?« erwiderte sie.
    Godolphins Assistent nahm einen Splitter und hielt ihn ins Licht.
    »Sie und das Glas haben soviel gemeinsam, Kindchen«, sagte er wie zu sich selbst. »Das Glas wurde so wie Sie geschaffen. Es ist - war - hübsch und zerbrechlich.« Dowd stand auf. »Sie sind immer hübsch gewesen, Judith. Die Mode kommt und geht, aber Judith verändert sich nie, bleibt immer schön.«
    »Sie wissen überhaupt nichts von mir.«
    Der junge Mann legte die Splitter auf den Tisch, neben das Tablett.
    »Da irren Sie sich«, entgegnete er. »Wir ähneln uns mehr, als Sie glauben.«
    Ein funkelndes Fragment hatte er behalten und preßte es nun ans Handgelenk. Es blieb Judith nur Zeit genug, seine Absicht zu erahnen, bevor er sich ins Fleisch schnitt. Sie wandte sich ab, doch als sie hörte, wie Dowd die kleine Glasscherbe auf den Tisch legte, glitt ihr Blick zu ihm zurück. Es strömte kein Blut aus seiner klaffenden Wunde, nur brackige Flüssigkeit.
    Und das Gesicht verriet keinen Schmerz, allein Konzentration.
    »Sie erinnern sich kaum an die Vergangenheit«, sagte Dowd.
    »Ich entsinne mich zu gut daran, vergesse keine Einzelheiten.
    Sie haben eine Leidenschaft, die mir fehlt. Sie kennen das Phänomen der Liebe, das ich nie verstehen werde. Trotzdem gleichen wir uns, Judith. Wir sind Sklaven.«
    Sie sah von seinem Gesicht zu der Wunde im Handgelenk, musterte ihn dann erneut und spürte, wie Panik in ihr emporstieg. Sie verachtete ihn, wollte nichts mehr von ihm hören. Nach einigen Sekunden schloß sie die Augen, stellte 534

    sich Dowd am Feuer vor, das die Voider verbrannte, dann im Schatten des Turms, mit Käfern im Gesicht. Das Entsetzen sollte Distanz zwischen ihnen schaffen, aber ihre Bemühungen führten nicht zum erhofften Erfolg. Die Worte erreichten sie, berührten etwas in ihr. Schon seit einer ganzen Weile trachtete sie nicht mehr danach, ihr eigenes Rätsel zu lösen, und nun warf Dowd ihr einzelne Stücke des Puzzles zu - es blieb ihr gar nichts anderes übrig, als nach ihnen zu greifen.
    »Wer sind Sie?« fragte sie.
    »Viel wichtiger ist: Wer sind Sie!«
    »Wir gleichen uns nicht«, sagte Judith. »Nicht einmal ein wenig. Ich blute und bin ein Mensch, im Gegensatz zu Ihnen.«
    »Aber ist es Ihr Blut?« erkundigte sich Dowd.
    »Es fließt in meinen Adern. Natürlich ist es meines.«
    »Dann frage ich noch einmal: Wer sind Sie?«
    Die Stimme klang normal, aber Jude argwöhnte dennoch eine subversive Absicht. Irgendwie hatte Dowd von ihrem schlechten Gedächtnis erfahren, und diesen Umstand nutzte er nun, um sie unter Druck zu setzen.
    »Ich weiß, was ich nicht bin« , sagte sie und gewann damit Zeit, um eine

Weitere Kostenlose Bücher