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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Antwort zu erfinden. »Ich bin kein Glas.
    Zerbrechlichkeit ist mir fremd. Und ich bin nicht...«
    Welche Eigenschaften hatte Dowd sonst noch erwähnt?
    Judith entsann sich daran, wie er die Splitter einsammelte, sie dabei beschrieb...
    »Was sind Sie nicht?« hakte er nach und beobachtete, wie sie mit ihrem Erinnerungsvermögen rang.
    Sie sah ihn vor dem inneren Auge. Er durchquerte die Küche... »Oh, sehen Sie nur, was Sie angerichtet haben«, sagte er. Und dann, als er sich bückte, um die Scherben einzusammeln, kamen ihm seltsame Worte über die Lippen.
    Plötzlich fielen sie ihr wieder ein.
    »Dieses Glas gehörte der Familie seit vielen Generationen.
    Eigentlich habe ich von Ihnen erwartet, daß Sie auf so etwas 535

    Rücksicht nehmen.«
    Gewöhnliche Silben, die sich zu zwei gewöhnlichen Sätzen aneinanderreihten. Doch tief in ihnen verbarg sich etwas...
    »Nein«, sagte Jude laut und schüttelte den Kopf, um zu verhindern, daß Verstehen hinter ihrer Stirn reifte. Die Bewegung bewirkte das Gegenteil, stimulierte ihr Gedächtnis und konfrontierte sie mit anderen Reminiszenzen: die Fahrt mit Charlie zum Anwesen, wo sie sich dem angenehmen Empfinden hingab, mit allem vertraut zu sein; im Gebäude Stimmen, die sie mit Kosenamen ansprachen; die Begegnung mit Oscar im Zugang der Zuflucht und die sichere Überzeugung, daß sie an seine Seite gehörte; das Porträt in Godolphins Schlafzimmer - es starrte so streng aufs Bett, daß Oscar die Lampen ausschaltete, bevor er es wagte, Judith zu lieben.
    Immer heftiger schüttelte sie den Kopf, bis die Bewegung etwas Krampfhaftes bekam. Tränen rannen ihr über die Wangen, und wie flehentlich hob sie die Hände, spürte dabei, wie ihr etwas die Kehle zuschnürte, sie daran hinderte, um Hilfe zu rufen. Wie durch einen Schleier sah sie Dowd, der noch immer am Tisch stand, die eine Hand auf die Wunde am Unterarm gelegt - er beobachtete sie aufmerksam. Jude taumelte und fürchtete plötzlich, das Gleichgewicht zu verlieren und zu fallen, sich den Kopf aufzuschlagen oder an ihrer eigenen Zunge zu ersticken. Sie wollte schreien, in der Hoffnung, daß Oscar sie hörte, doch nur ein leises Krächzen entrang sich ihrer Kehle. Um sie herum drehte sich alles, als sie zur Tür wankte - und dort Godolphin sah, der sich ihr durch den Flur näherte. Sie streckte ihm die Arme entgegen, spürte seine Hände, die sie festhielten und davor bewahrten, zu Boden zu sinken. Dann wurde es schwarz vor ihren Augen.
    2
    Oscar leistete ihr Gesellschaft, als sie erwachte. Judith lag nicht 536

    im schmalen Bett des Zimmers, in dem sie die letzten Tage verbracht hatte, sondern in Godolphins viel breiterem Himmelbett. Als sie aufsah, begegnete sie dem strengen Blick des Lords auf dem Gemälde, der noch immer wie mißbilligend herabstarrte, während sein Nachfahr nach Judes Hand tastete und mehrmals beteuerte, wie sehr er sie liebe. Unmittelbar nach ihrem Erwachen wich sie vor ihm zurück.
    »Ich bin kein... Haustier«, brachte sie hervor. »Du kannst mich nicht streicheln... wenn dir der... Sinn danach steht.«
    Oscar blinzelte verblüfft. »Ich entschuldige mich in aller Form«, sagte er mit erschrockenem Ernst. »Ich habe anderen Dingen den Vorrang gegeben und mich nicht ausreichend bemüht, dich zu verstehen. Das ist unverzeihlich. Dowd flüsterte mit dauernd etwas zu... War er sehr grausam zu dir?«
    »Nur du bist grausam gewesen.«
    »Es geschah nicht mit Absicht. Bitte glaub mir das.«
    »Du hast mich immer wieder belogen«, erwiderte Judith und sammelte Kraft, um sich aufzusetzen. »Du hast Informationen über mich, die mir fehlen. Warum teilst du dein Wissen nicht mit mir? Ich bin kein kleines Kind.«
    »Du hattest einen Anfall«, sagte Oscar. »Passiert so etwas häufiger?«
    »Nein.«
    »Manche Angelegenheiten sollte man besser ruhen lassen.«
    »Zu spät«, meinte Jude. »Ich hatte einen Anfall, ja, und ich habe ihn überlebt. Jetzt bin ich bereit, ins Geheimnis eingeweiht zu werden.« Sie deutete auf das Gemälde. »Es geht dabei auch um ihn, nicht wahr? Aus irgendeinem Grund hat er Macht über dich.«
    »Unsinn...«
    »Du lügst schon wieder!« Judith riß die Decke beiseite und stemmte sich hoch, bis sie kniete, bis ihr Gesicht auf einer Höhe mit dem des Heuchlers und Betrügers war. »In der einen Sekunde behauptest du, mich zu lieben, und in der nächsten be-537

    lügst du mich. Warum? Warum vertraust du mir nicht?«
    »Ich habe dir mehr erzählt als sonst jemandem. Und dann mußte

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