Imagica
ich entdecken, daß du dich gegen die Tabula Rasa verschworen hast.«
»Das ist noch nicht alles«, sagte Judith und dachte an ihre geistige Reise durch den Keller des Turms.
Erneut war sie nahe daran, von ihren Erlebnissen zu berichten, und nur Claras Rat hinderte sie daran. Sie können nicht Celestine retten und sich Godolphins Zuneigung bewahren, hatte sie gesagt. Sie erschüttern das Fundament seiner Familie und seines Glaubens. Erst jetzt wurde ihr im vollen Ausmaß klar, was diese Worte zum Ausdruck brachten.
Die Vorstellung, alles zu schildern und dadurch eine recht schwere Last abzustreifen, war zweifellos sehr angenehm.
Aber konnte sie sicher sein, daß Oscar nicht an der Familientradition festhielt und das neue Wissen gegen sie verwendete? Dadurch hätten Claras Tod und Celestines Leid jeden Sinn verloren. Judith stellte ihre einzige Verbündete im Kosmos der Lebenden dar, und sie durfte das Opfer der beiden nicht aufs Spiel setzen.
»Wie meinst du das?« fragte Oscar erstaunt. »Was gibt es sonst noch, abgesehen von der Verschwörung gegen die Tabula Rasa?«
»Du bist mir gegenüber nicht ehrlich gewesen«, sagte Judith.
»Warum sollte ich offen zu dir sein?«
»Weil ich nach wie vor imstande bin, dich nach Yzordderrex zu bringen«, sagte Godolphin.
»Versuchst du es jetzt mit Bestechung?«
»Möchtest du die anderen Domänen sehen?«
»Noch wichtiger ist es mir, die Wahrheit über mich selbst herauszufinden.«
Oscars Miene zeigte vage Enttäuschung. »Oh...« Er seufzte.
»Ich lüge schon so lange, daß ich gar nicht mehr sicher bin, ob ich überhaupt die Wahrheit kenne. Mit einer Ausnahme...«
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»Ja?«
»Was wir fühlten...«, murmelte Oscar. »Besser gesagt: Was ich für dich gefühlt habe... Die entsprechenden Empfindungen existierten doch wirklich, ja?«
»Sie können nicht sehr intensiv gewesen sein«, antwortete Judith. »Du hast mich eingesperrt und Dowds Obhut überlassen...«
»Ich habe bereits erklärt...«
»Oh, sicher, du warst abgelenkt. Du mußtest dich um andere Dinge kümmern. Und dadurch hast du mich vergessen.«
»Nein«, protestierte Oscar. »Ich habe dich nie vergessen, das schwöre ich.«
»Was dann?«
»Ich war... besorgt.«
»Wegen mir?«
»Auch. Aber vor allem wegen Dowd und der Tabula Rasa.
Irgend etwas veranlaßte mich, überall Gegner und Komplotte zu sehen. Plötzlich erschien es mir viel zu gefährlich, in meinem eigenen Bett zu liegen. Ich hatte Angst, von dir umgebracht zu werden...«
»Das ist doch lächerlich.«
»Glaubst du? Woher soll ich wissen, wem du dich verpflichtet fühlst?«
»Mir selbst.«
Oscar schüttelte den Kopf, und sein Blick wanderte von Judiths Gesicht zu dem Gemälde von Joshua Godolphin.
»Wie kannst du so sicher sein?« murmelte er. »Besteht wirklich kein Zweifel daran, daß die Gefühle für mich in deinem eigenen Herzen entspringen?«
»Spielt ihr Ursprung eine Rolle?« erwiderte Jude. »Sie existieren. Sieh mich an.«
Oscar kam der Aufforderung nicht nach, sondern starrte auch weiterhin zu dem verrückten Lord empor.
»Er ist tot«, sagte Judith.
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»Aber sein Vermächtnis...«
»Zum Teufel mit seinem Vermächtnis.« Sie sprang auf, griff mit beiden Händen nach dem Bild, riß es vom Haken und schleuderte es durchs Zimmer. Dann ließ sie sich wieder auf die Matratze sinken, vor Oscar hin.
»Er ist tot und längst zu Staub zerfallen«, betonte sie. »Er kann nicht über uns urteilen. Und er kann uns nicht kontrollieren. Was auch immer wir füreinander empfinden -
und ich behaupte nicht, die betreffenden Gefühle voll und ganz zu verstehen -, es gehört uns.« Sie erhob die Hände zu Oscars Gesicht und strich über seinen Bart. »Trenn dich von der Furcht«, sagte sie leise. »Nimm statt dessen mich.«
Er legte ihr den Arm um die Schultern.
»Wir reisen nach Yzordderrex«, fuhr Judith fort. »Weder in einer Woche noch in einigen Tagen. Morgen. Ich möchte morgen aufbrechen. Andernfalls...« Ihre Hände zogen sich zurück von seinem Gesicht. »Andernfalls laß mich gehen, jetzt gleich. Laß mich aus deinem Leben verschwinden. Ich möchte keine Gefangene sein, Oscar. Joshuas Mätressen wären vielleicht dazu bereit gewesen, aber ich nicht. Eher begehe ich Selbstmord, als noch einmal von dir eingesperrt zu werden.«
Sie sprach die letzten Worte ganz ruhig aus, mit kühler Sachlichkeit. Godolphin griff nach ihren Händen und hob sie noch einmal zu seinen Wangen, schien sich ihr mit dieser Geste zu
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