Imagica
Wüste, mit gutem Blick auf Yzordderrex.«
Sein nervöses Plappern hielt die Stille fern, bis sie den Zugang erreichten, und dort schwieg er wieder. Wofür Judith dankbar war - die Zuflucht verdiente mehr Respekt und Ehrfurcht. Als sie vor der Tür stand, fiel es ihr nicht schwer zu glauben, daß sich hier Phantome versammelten. Die Fantasie zeigte ihr, wie sich Tote aus vergangenen Jahrhunderten mit den Leuten trafen, die sie zuletzt hier gesehen hatte. Sie sah Charlie, dessen flüsternde Stimme einmal mehr behauptete, daß dieser Ort nichts Besonderes darstelle. Und die Voider...
Sie hockten auf der Schwelle, der eine mit verbrannter Haut, der andere mit zertrümmertem Schädel.
»Noch kannst du es dir anders überlegen«, sagte Oscar.
Als Judith den Kopf schüttelte, führte er sie in die Zuflucht, zur Mitte des Mosaiks.
»Wenn es soweit ist, müssen wir uns gegenseitig festhalten«, erklärte er. »Selbst wenn du glaubst, daß überhaupt nichts mehr existiert, an dem man sich festhalten könnte. Das ist sehr wichtig. Ich möchte dich nicht zwischen Hier und Dort verlieren. Das In Ovo eignet sich nicht für Streifzüge.«
»Ich bleibe bei dir.«
Oscar ging in die Hocke und zog elf oder zwölf Steine aus dem Mosaik. Jeder war pyramidenförmig und alle zusammen waren sie etwa so groß wie zwei Fäuste; innerhalb des allgemeinen Musters schienen sie fast unsichtbar zu sein.
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»Was den Mechanismus betrifft, der uns zur anderen Seite bringt...«, sagte Godolphin, während er die Vorbereitungen traf. »Ich verstehe ihn nicht ganz. Wahrscheinlich gibt es niemanden, der jeden Aspekt davon versteht. ›Sünder‹ Hebbert meinte, jeder Stein könne in einer Art Basissprache transkribiert werden. Darum geht es bei der Magie - um eine derartige Übersetzung beziehungsweise Transkription.« Er legte die Steine an den Rand des Kreises, und die Anordnung wirkte planlos, willkürlich. »Wenn Geist und Materie sich in der gleichen Sprache ausdrücken, existieren zahlreiche Möglichkeiten, um sowohl das eine als auch das andere zu beeinflussen. Dann kann man Fleisch und Knochen verwandeln, transzendentieren...«
»Und transportieren?«
»Genau.«
Judith erinnerte sich daran, welcher Anblick sich einem Beobachter darbot, wenn jemand diese Welt verließ: ein Körper, der sich zusammenzufalten schien, dabei völlig unkenntlich wurde.
»Tut es weh?« fragte sie.
»Zu Anfang. Aber nicht sehr.«
»Und wann beginnt es?«
Oscar stand auf. »Es hat bereits begonnen«, erwiderte er.
Jude spürte es: ein seltsamer Druck in Darm und Blase; eine Anspannung in der Brust, die sie veranlaßte, nach Luft zu schnappen.
»Atme ganz ruhig.« Godolphin legte ihr die Hand aufs Brustbein. »Kämpfe nicht dagegen an. Laß es einfach geschehen. Du hast nichts zu befürchten.«
Sie sah erst auf seine Hand hinab, dann zum Kreis, der sie umschloß. Jenseits davon befand sich die Tür der Zuflucht, und dahinter... Sonnenschein und Gras. Die Distanz betrug nur einige Meter, aber Judith konnte jetzt nicht dorthin zurückkehren. Sie war in einen Zug eingestiegen, der 544
beschleunigte, immer schneller wurde. Jetzt gibt es kein Zurück mehr, dachte sie, und diese Erkenntnis brachte eine gewisse Nervosität mit sich.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte Oscar, doch ihre Empfindungen vermittelten Judith eine ganz andere Botschaft.
Sie fühlte ein Stechen im Bauch, so heftig, als hätte man sie vergiftet. Hinzu kamen dumpfer Schmerz im Kopf und ein sonderbares Jucken, so tief unter der Haut, daß kein Kratzen half. Was war mit Oscar? Erging es ihm ähnlich? Wenn er die gleichen Beschwerden hatte, so nahm er sie mit bemerkenswerter Gelassenheit hin. Er erwiderte ihren Blick und lächelte so beruhigend wie ein Anästhesist.
»Es dauert nicht lange«, sagte er. »Halt dich gut fest... Du hast es bald überstanden.«
Er zog sie näher zu sich heran, und Judith spürte ein Prickeln, das alle ihre Körperzellen erfaßte - dann schien ein jäher Regen in ihrem Innern die Pein fortzuspülen.
»Besser?« fragte Godolphin. Jude wußte nicht, ob sie das Wort nur von seinen Lippen ablesen konnte oder tatsächlich hörte.
»Ja«, antwortete sie und lächelte ebenfalls. Ein Kuß vereinte sie, und Judith schloß die Augen, als sich ihre Zungen berührten.
Strahlende Linien erhellten plötzlich die Dunkelheit hinter Judes Lidern, wie von Sternschnuppen, die vor ihren inneren Pupillen niedergingen. Sie öffnete die Augen wieder, doch das Spektakel hatte
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