Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
Vom Netzwerk:
seinen Ursprung in ihrem Innern und schuf ein Streifenmuster aus buntem Licht vor Oscars Gesicht. Dutzende von Farbschattierungen hoben die Falten und Furchen Godolphins hervor, die Struktur der Knochen, die Anordnung von Nerven, Adern und Kapillaren, bis hin ins kleinste Detail.
    Im Anschluß daran schien die Psyche mit der reinen Übersetzung in die Basissprache fertig zu sein - was den Übergang zur Poesie ermöglichte. Die verschiedenen Schichten 545

    des Leiblichen gewannen eine andere Ausprägung.
    Überflüssiges und Wiederholungen verschwanden, wodurch Formen entstanden, die so einfach und absolut waren, daß die von ihnen repräsentierte Materie im Vergleich dazu armselig anmutete. Während Judith diesen Vorgang beobachtete, erinnerte sie sich an das Symbol, das sie beim ersten Geschlechtsakt mit Oscar gesehen hatte: Spiralen und Bögen aus Wonne, auf dem Samt hinter ihren Augen. Hier bot sich ihr nun eine vergleichbare Erfahrung, aber der nach Metaphern suchende Geist wohnte nicht etwa in Jude, sondern in dem Steinkreis, der seine Macht vom Mosaik empfing - und von der Entschlossenheit der Reisenden.
    Eine Bewegung an der Tür weckte ihre Aufmerksamkeit.
    Die Luft um sie herum verwandelte sich immer mehr in einen Schleier, und deshalb nahm Judith jenseits des Steinkreises nur verschwommene Konturen wahr. Doch der Anzug des Mannes, der im Zugang stand, war farbig genug, um einen deutlichen Hinweis auf seine Identität zu liefern, auch wenn sie sein Gesicht nicht erkennen konnte. Wer außer Dowd mochte aprikosenfarbene Töne? Sie nannte seinen Namen, doch es blieb alles still; vergeblich horchte sie nach ihrer eigenen Stimme. Godolphin schien sie trotzdem zu verstehen und wandte sich der Tür zu.
    Dowd eilte auf das Mosaik zu, und an seinen Absichten bestand nicht der geringste Zweifel - er wollte an der Reise zur Zweiten Domäne teilnehmen. Jude wußte um die gräßlichen Konsequenzen, die sich ergaben, wenn jemand auf den
    ›fahrenden Zug‹ aufspringen wollte. Sie schob sich näher an Oscar heran und erwartete einen heftigen Aufprall. Doch Godolphin beschränkte sich nicht mit einer passiven Rolle, trat einen Schritt vor und holte aus, um Dowd mit einem Schlag abzuwehren. Der Steinkreis intensivierte seine Transkriptionsaktivität, und aus dem Symbol von Oscars Körper wurde ein seltsam gekritzelter Schnörkel, dessen Far-546

    ben ihren Glanz verloren. Überstanden geglaubter Schmerz kroch zurück und brachte Judith neues Leid. Blut tropfte ihr aus der Nase, drang ihr in den Mund. Die Haut juckte schier unerträglich, doch sie konnte sich nicht kratzen: In den Gelenken brannte ein Feuer, das sie an jeder Bewegung hinderte.
    Das Gekrakel vor ihr blieb ohne Bedeutung, bis sie die eine Seite von Oscars Gesicht sah, noch immer auf die innere, essentielle Struktur reduziert. Er schrie, als er aus dem Kreis fiel. Judith streckte die Hand aus, um ihn zurückzureißen, obgleich dadurch neuerlicher Schmerz in ihr entflammte. Sie griff nach seinem Arm, mit der festen Absicht, bei Godolphin zu bleiben. Ob das Mosaik sie beide nach Yzordderrex brachte oder in den Tod - Jude wollte nicht von Oscar getrennt werden.
    Er reagierte, hob beide Hände und schloß sie um ihre Unterarme, ließ sich zurückziehen. Erst als sein Gesicht aus den Schlieren glitt und ein Lächeln zeigte, erkannte Judith ihren Fehler. Sie hatte nicht etwa Godolphin geholfen, sondern Dowd.
    Aus einem Reflex heraus ließ sie ihn los - der Grund dafür war nicht in erster Linie Zorn, sondern Ekel. Das Gesicht des jungen Mannes glich einer schrecklichen Fratze; Blut strömte aus Augen, Ohren und Nase. Was auch immer den Wechsel zwischen den Domänen bewirkte: Es begann nun mit einer neuen Transkription. Judith konnte diesen Vorgang nicht unterbrechen, es wäre Selbstmord gewesen, den Steinkreis jetzt zu verlassen. Jenseits davon lösten sich die letzten Konturen auf, und Dunkelheit wogte heran, aber sie sah, wie Oscar aufstand und dem Himmel dafür dankte, noch am Leben zu sein. Dann näherte er sich dem Mosaik und schien zunächst mit dem Gedanken zu spielen, noch einmal den Transferbereich aufzusuchen, bevor er zu dem Schluß gelangte, daß der Zug inzwischen zu schnell fuhr. Er wich zurück, hielt sich dabei die Hände vors Gesicht, und kurz darauf verschwand die ganze 547

    Szene. Der Sonnenschein an der Tür verharrte einen Sekundenbruchteil länger, um dann ebenfalls vom Nichts verschlungen zu werden.
    Judith sah nur noch ein komplexes

Weitere Kostenlose Bücher