Imagica
Durcheinander aus Linien
- die Matrix ihres Reisegefährten. Zwar verachtete und verabscheute sie jenes Wesen, aber trotzdem hielt sie den Blick darauf gerichtet, da es für sie keine anderen Bezugspunkte gab.
Es existierten keine körperlichen Empfindungen mehr. Sie wußte nicht, ob sie schwebte oder fiel, ob sie überhaupt atmete.
Vielleicht erlebte sie nun eine Phase der physischen Stasis. Als codiertes Symbol wurde sie von einer Domäne zur anderen übertragen, und Dowd - beziehungsweise sein Zeichen - blieb schemenhaft, weil er hinter einem Vorhang aus Gedanken verweilte. Das Psychische schien sich nun zu verdichten und Substanz zu gewinnen. Jude dachte an den Namen, den Oscar diesem Ort gegeben hatte: In Ovo. Die Dunkelheit teilte sich, gewann Myriaden individueller Ausprägungen mit einer aus Finsternis bestehenden Haut, die sich spannte, glänzte und aufplatzte. Ein klebriges Etwas kroch daraus hervor, das seinerseits anschwoll und platzte - wie Früchte, die innerhalb von Früchten wuchsen, wobei sich jede vom Zerfall der anderen nährte. Das war gräßlich genug, aber es kam noch schlimmer. Neue Entitäten erschienen, wie die Reste einer Mahlzeit von Kannibalen, blutleer gesaugt und abgenagt; Symbole aus idiotischem Gekritzel, die keine Transkription ins Materielle lohnten. Sie mochten primitiv sein, spürten jedoch die Präsenz höher entwickelter Lebensformen in der Nähe und erhoben sich vor den Reisenden, wie sich Verdammte vor Engeln erheben. Aber sie strebten ihnen zu spät entgegen. Jude und Dowd setzten den Weg fort, und die Dunkelheit -
beziehungsweise die Dunkelheiten - hielten ihre sonderbaren Bewohner fest.
Nach einer Weile bemerkte Judith, wie sich um Dowds Symbol ein noch substanzloser Körper abzeichnete. Das 548
Rematerialisieren brachte den Schmerz zurück, doch glücklicherweise erwies sich die Pein als nicht ganz so intensiv wie zu Beginn der Reise. Judith nahm sie sogar mit einer gewissen Dankbarkeit entgegen, denn das Brennen in ihr bewies, daß sie wieder Nerven hatte, daß der Transfer zu Ende ging. Die Greuel des In Ovo blieben zurück, und Wärme berührte die Wangen der Frau. Damit einher ging ein besonderer Geruch, der ihr die unmittelbare Nähe des Ziels bewies: Den gleichen aromatischen Duft hatte sie vor einigen Monaten bei der Zuflucht wahrgenommen.
Sie sah, wie sich ein Lächeln in Dowds Gesicht ausdehnte, wie die Kruste aus geronnenem Blut zerriß. Aus dem Lächeln wurde ein Grinsen und dann ein Lachen, das von den Wänden eines Kellers widerhallte, der sich unter ›Sünder‹ Hebberts Haus erstreckte. Judith wollte Dowds Frohsinn nicht teilen - sie verdankte ihm zuviel Leid -, aber sie war außerstande, an ihrem Zorn festzuhalten. Erleichterung über das Ende der Reise durchströmte sie, und hinzu kam Begeisterung: Endlich befand sie sich in Yzordderrex. Sie lachte ebenfalls und atmete voller Freude die Luft der Zweiten Domäne.
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KAPITEL 31
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Acht Kilometer über dem Haus, in dem Judith und Dowd nach dem Transfer aus der Fünften Domäne rematerialisierten, saß der Autokrat von Imagica in einem seiner Wachtürme und beobachtete die Stadt, die tief unten am Hang des Berges wucherte. Vor drei Tagen war er vom Palast in Kwem zurückgekehrt, und fast jede Stunde erfuhr er von neuen Unruhen. Manchmal betrafen sie so weit entfernte Regionen, daß die entsprechenden Nachrichten Wochen brauchten, um Yzordderrex zu erreichen, doch gelegentlich fanden die Aufstände nicht weit jenseits der Palastmauern statt. Während er darüber nachdachte, kaute er Kreauchee, eine Droge, nach der er seit etwa siebzig Jahren süchtig war. Wenn man unvorsichtig mit ihr umging, konnte es zu sehr unangenehmen Nebenwirkungen kommen: Lethargie, Priapismus, psychotische Halluzinationen. Ab und zu schwollen Finger und Zehen auf groteske Weise an. Der Körper des Autokraten hatte sich im Verlauf vieler Jahrzehnte an das Kreauchee gewöhnt, und daher brauchte er keine negativen Konsequenzen für Leib und Seele zu befürchten. Völlig unbefangen verwendete er die Droge, um sich von Schmerzen zu befreien und innere Ruhe zu finden.
Zumindest bis vor kurzer Zeit. Jetzt schien sich das Kreauchee mit den Mächten verbündet zu haben, die sein Werk ruinieren wollten: Es weigerte sich hartnäckig, ihm Erleichterung zu schenken. Bevor er sich in die Ödnis zurückzog, um in dem kleineren Palast zu meditieren, hatte er einen neuen Vorrat der Droge bestellt, doch nach seiner Rückkehr teilte man ihm
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