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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Engel 595

    geschickt, um mich zu holen.«
    »Ja?«
    »Ja. Ich bin ganz sicher. Das ist ein Zeichen für Seine Bereitschaft, mir zu vergeben.«
    Etwas lenkte die Frau ab, und sie wandte sich der Tür zu.
    Dort stand ein Mann in Uniform - sein Gesicht offenbarte sich nur im Glühen der Zigarette, die er rauchte.
    »Verschwinden Sie«, sagte die andere Judith.
    »Ich bin gekommen, um festzustellen, ob alles in Ordnung ist, Ma'am Quaisoir.«
    »Sie sollen verschwinden, Seidux.«
    »Wenn Sie etwas brauchen...«
    Quaisoir stand ruckartig auf und stürmte durch die Schleier.
    Ihr plötzlicher Angriff verblüffte nicht nur das zuschauende Phantom, sondern auch den Uniformierten. Die Frau war einen Kopf kleiner als der Soldat, aber ganz offensichtlich fürchtete sie ihn nicht. Ein jäher Hieb schleuderte die Zigarette fort.
    »Ich will nicht, daß Sie mich beobachten«, zischte Quaisoir.
    »Raus mit Ihnen. Oder soll ich um Hilfe rufen? Ich könnte behaupten, daß Sie mich vergewaltigen wollten...«
    Sie zerrte an ihrer bereits halb zerfetzten Kleidung und entblößte die Brüste. Seidux wich verdutzt zurück und starrte zu Boden.
    »Wie Sie wünschen«, sagte er und floh aus der Kammer.
    »Wie Sie wünschen.«
    Quaisoir warf die Tür zu und sah sich im Schlafzimmer um.
    »Wo bist du, Geist?« fragte sie und kehrte langsam durch die Schleier zurück. »Fort? Nein...« Und zu Concupiscentia:
    »Fühlst du noch immer die fremde Präsenz?« Das Wesen schien sich viel zu sehr zu fürchten, um Antwort geben zu können. »Ich spüre nichts«, fuhr die Frau fort. Sie stand nun still zwischen den Vorhängen. »Verdammter Seidux! Er hat den Engel verscheucht!«
    Jude konnte ihr nicht widersprechen. Es blieb ihr keine 596

    andere Wahl, als neben dem Bett zu warten und zu hoffen, daß die Wirkung von Seidux' störender Präsenz bald nachließ -
    allem Anschein nach hatte der Soldat Quaisoir und Concupiscentia die Möglichkeit genommen, den Geist wahrzunehmen. Judith erinnerte sich an Claras Hinweis auf die zerstörerische Kraft von Männern. Habe ich gerade ein Beispiel dafür erlebt? überlegte sie nun. Genügte allein Seidux'
    Anwesenheit, um den Kontakt zwischen schlafender und wacher Seele zu unterbrechen? Wenn das stimmte, so steckte keine Absicht dahinter. Der Uniformierte ahnte nichts von seiner negativen Kraft, was ihm keineswegs Verantwortung abnahm. Wie oft geschah es jeden Tag, daß er und andere seiner Art - Clara sprach in diesem Zusammenhang von einer anderen Spezies, nicht wahr? - unwissentlich soviel ruinierten und die Harmonie subtilerer Naturen verhinderten?
    Quaisoir sank aufs Bett zurück und gab Judith Zeit, über das Rätsel ihres Gesichts nachzudenken. Seit Beginn des ›Traums‹
    hatte sie nicht ein einziges Mal daran gezweifelt, daß sie etwas Reales erlebte, wie bei der psychischen Reise zum Turm: Sie nutzte den Schlaf, um unsichtbar die Wirklichkeit zu durchstreifen. Die Frage, warum sie dafür nicht mehr den blauen Stein brauchte, mußte zunächst unbeantwortet bleiben.
    Sie hielt es für weitaus wichtiger herauszufinden, weshalb die Frau im Bett genauso aussah wie sie selbst. Stellte diese Domäne eine Art Spiegelbild der Welt dar, die sie verlassen hatte? Und wenn nicht, wenn es hier für keine andere Frau aus der Fünften eine perfekte Doppelgängerin gab - was bedeutete ein solches Echo für sie selbst?
    Draußen flaute der Wind ab, und Quaisoir beauftragte ihre Zofe, die Fensterläden zu öffnen. Noch immer hing roter Staub in der Luft, aber Judith empfand den Anblick trotzdem als atemberaubend - obwohl ihr im derzeitigen Zustand Lungen fehlte, die mit Luft gefüllt werden wollten. Die Kammer befand sich hoch über der Stadt, in einem der Türme, die sie in 597

    der Gesellschaft von Hoi-Polloi gesehen hatte. Es ging nicht nur darum, daß Yzordderrex unter Judith ausgebreitet lag - als weiterer Faktor kamen Anzeichen der Zerstörung hinzu. Hier und dort wüteten Brände jenseits der Palastmauern, und diesseits der Wälle sammelten sich die Truppen des Autokraten. Jude drehte sich um, richtete ihren Traumblick wieder auf Quaisoir, und dabei bemerkte sie zum erstenmal die verschwenderische Pracht des Raumes. Tapisserien hingen an den Wänden, und alle Möbelstücke wiesen vergoldete Einlegearbeiten auf. Wenn dies ein Gefängnis war, so eignete es sich für einen Fürsten - oder für eine Königin.
    Quaisoir trat ans Fenster heran und starrte zur brennenden Stadt hinunter.
    »Ich muß Ihn finden«, sagte

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