Imagica
Augenblick standen Quaisoir und Concupiscentia vor ihr am Fenster; im nächsten sah sie das Gesicht von ›Sünder‹ Hebberts Tochter.
»Papa...«, begann sie erneut.
»Ja, schon gut«, entgegnete Jude schroff und hoffte, daß Hoi-Polloi ging, ohne mit weiteren Worten die Erinnerungen 600
an den Traum zu trüben. Sie wußte, daß ihr nur wenige Sekunden blieben, um den Traum aus dem Schlaf mitzunehmen; wenn ihr das nicht gelang, würden seine Bilder verblassen und rasch an Bedeutung verlieren. Und sie hatte Glück. Hoi-Polloi eilte aus dem Zimmer, um zu ihrem Vater zurückzukehren, und dadurch fand Judith Gelegenheit, sich alles fest einzuprägen: Quaisoir und ihre Zofe Concupiscentia; Seidux und der Plan, ihn zu überwältigen; und natürlich der Geliebte. Sie durfte auf keinen Fall den Geliebten vergessen, der irgendwo in Yzordderrex weilte und sich nach Quaisoir sehnte, nach der Gefangenen im goldenen Käfig. Mit diesem Wissen im Gedächtnis wagte sich Jude erst ins Bad und dann ins Erdgeschoß des Hauses, um dort Hoi-Pollois Vater gegenüberzutreten.
›Sünder‹ Hebbert war gut gekleidet und noch besser genährt; der gegenwärtige Zorn schien in seinem Gesicht völlig fehl am Platz zu sein. Die Wut wirkte bei ihm fast absurd und paßte nicht zu dem runden Gesicht mit den weichen Zügen und einem zu kleinen Mund. Seine Tochter stellte Judith vor, doch Hebbert hielt sich nicht mit Höflichkeitsfloskeln auf. Der Ärger in ihm verlangte nach angemessenen Worten -
beziehungsweise Flüchen. Vielleicht scherte er sich gar nicht darum, wer ihm zuhörte, solange das Publikum ein angemessenes Maß an Mitgefühl zeigte. Nun, es gab allen Grund für ihn, aufgebracht zu sein. Eines seiner Lagergebäude hatte sich in einen qualmenden Schutthaufen verwandelt, und er selbst war nur knapp einem Mob entkommen, der bereits drei Kesparaten kontrollierte - angeblich handelte es sich dabei jetzt um unabhängige Stadtstaaten, was einer offenen Herausforderung für den Autokraten gleichkam. Bisher begnügte sich der Palast im großen und ganzen damit, die Geschehnisse nur zu beobachten. Kleine Truppenkontingente waren zum Caramess, dem Oke T'Noon und den sieben Kesparaten auf der anderen Seite des Hügels geschickt worden, 601
um dort Unruhen vorzubeugen, doch man unternahm nichts gegen die Aufständischen im Bereich des Hafens.
»Es ist Pöbel, weiter nichts«, sagte Hebbert. »Ein wildes Pack, das zerstört und mordet. Jene Leute haben vor nichts Respekt! Nun, ich bin kein großer Anhänger des Autokraten, aber anständige Bürger wie ich erwarten von ihm, daß er gerade in Zeiten der Not ihre Rechte schützt. Ich hätte mein Geschäft vor einem Jahr verkaufen sollen. Mehrmals habe ich mit Oscar darüber gesprochen. Wir planten, diese verdammte Stadt zu verlassen - aber ich schob es immer wieder hinaus, weil ich so dumm bin, an das Gute in den Leuten zu glauben.
Das ist mein größter Fehler«, betonte der Kaufmann und blickte zur Decke empor wie jemand, der seine eigene Anständigkeit als Bürde empfindet. »Ich habe zuviel Vertrauen.« Er sah Hoi-Polloi an. »Stimmt's?«
»Ja, Papa. Du hast völlig recht.«
»Nun, damit ist jetzt Schluß. Geh und pack deine Sachen, Schatz. Wir brechen noch heute abend auf.«
»Und das Haus?« fragte Dowd. »Hier gibt es viele wertvolle Gegenstände.«
›Sünder‹ Hebbert wandte sich erneut an seine Tochter. »Ich schlage vor, du beginnst sofort damit, alle notwendigen Vorbereitungen zu treffen«, ordnete er an - ganz offensichtlich widerstrebte es ihm, seine Schwarzmarktgeschäfte in Hoi-Pollois Gegenwart zu erörtern. Er warf auch Judith einen durchdringenden Blick zu, den sie jedoch ignorierte. Nach einigen Sekunden fuhr Hebbert fort:
»Wenn wir dieses Haus verlassen, so kehren wir nie zurück.
Bald gibt es hier gar nichts mehr, das eine Rückkehr lohnt -
davon bin ich überzeugt.« Der wütende Bourgeois, der sich eben noch für Recht und Ordnung ausgesprochen hatte, wurde nun zu einem Apokalyptiker. »Früher oder später mußte es so kommen. Sie konnten die Kulte nicht bis in alle Ewigkeit unter Kontrolle halten.«
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»Sie?« wiederholte Judith.
»Der Autokrat. Und Quaisoir.«
Es bereitete ihr einen Schock, diesen Namen zu hören.
»Wer ist Quaisoir?« brachte sie hervor.
»Die Frau des Autokraten. Seine Gemahlin. Die Herrin von Yzordderrex - Ma'am Quaisoir. Wenn Sie mich fragen: Sie ist sein Verderben. Er hat sich immer zurückgehalten, und das war sehr klug von
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