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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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sie. » Er hat einen Engel geschickt, um mich zu holen, doch Seidux verjagte Seinen Boten. Deshalb muß ich allein gehen. Noch heute abend...«
    Judith hörte nicht sehr aufmerksam zu. Ihr Interesse galt vor allem dem prunkvollen Zimmer, das Hinweise auf ihre sonderbare Zwillingsschwester bot. Offenbar teilte sie das Gesicht mit einer recht wichtigen Frau, die einst sehr mächtig gewesen war und noch als Gefangene großen Luxus genoß. Sie schien nun die Fesseln abstreifen zu wollen, und der Grund dafür hieß... Liebe? In der Stadt tief unten gab es einen Mann, nach dem sie sich sehnte, ein Geliebter, der Engel schickte, um ihr süße Worte ins Ohr zu flüstern. Was für ein Mann mochte es sein? Vielleicht ein Maestro, jemand, der über Magie gebot?
    Nachdem Quaisoir eine Zeitlang auf die Stadt hinabgeblickt hatte, wandte sie sich vom Fenster ab und ging ins Ankleidezimmer.
    »In dieser Aufmachung kann ich Ihm
    nicht
    gegenübertreten«, sagte sie und zog sich aus. »Das wäre eine Schande.«
    Die Frau sah sich in einem der Spiegel und nahm davor Platz, betrachtete ihr Abbild voller Abscheu. Die Tränen hatten 598

    ihre Wimperntusche verschmiert und Flecken auf den Wangen entstehen lassen. Quaisoir nahm ein Tuch von der Frisierkommode, ließ etwas Duftöl darauf hinabtropfen und begann damit, ihr Gesicht zu reinigen.
    »Ich gehe nackt zu Ihm«, versprach sie ihrem Spiegelbild und lächelte. »Das ist Ihm bestimmt lieber.«
    Der mysteriöse Geliebte faszinierte Judith immer mehr. Es erregte sie, Heiserkeit in der eigenen Stimme zu hören, während sie - Quaisoir - von Nacktheit sprach. Sie stellte sich vor, sich selbst bei der Erfüllung eines erotischen Wunsches zu beobachten... Der Geschlechtsverkehr mit einem yzordderrexianischen Maestro gehörte nicht zu den Wundern, die sie hier in dieser Stadt erwartet hatte, aber der Gedanke übte einen gewissen Reiz auf sie aus. Sie beobachtete das Spiegelbild ihrer Doppelgängerin. Zwar gab es einige kosmetische Unterschiede, aber alle wichtigen Aspekte entsprachen ihrem Selbst, bis in die kleinsten Einzelheiten. Das Gesicht der anderen Judith ähnelte dem ihren nicht nur, sondern war damit identisch, und zwar auf eine Weise, die eine seltsame Aufregung in ihr bewirkte. Sie mußte unbedingt eine Möglichkeit finden, mit dieser Frau zu sprechen. Selbst wenn sie keine wahren Zwillingsschwestern sein konnten: Es war bestimmt aufschlußreich, von den Erlebnissen der anderen Judith zu erfahren und festzustellen, ob auch dort Parallelen existierten. Sie brauchte nun einen Hinweis darauf, in welchem Teil der Stadt Quaisoir nach ihrem geliebten Maestro Ausschau halten wollte.
    Nachdem sie ihr Gesicht gereinigt hatte, stand die Frau auf und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Concupiscentia saß dort am Fenster. Quaisoir trat ganz nahe an ihre Zofe heran, und ihre Stimme war kaum mehr als ein Raunen, als sie sagte:
    »Wir brauchen ein Messer.«
    Das Wesen schüttelte den Kopf. »Sie alle haben fortgenom-men«, erwiderte es. »Sie gesehen, wie die Soldaten überall ge-599

    sucht.«
    »Wir müssen uns eines besorgen - oder eines herstellen«, beharrte Quaisoir. »Seidux wird bestimmt versuchen, uns aufzuhalten.«
    »Sie bereit zu töten?«
    »Ja.«
    Judith schauderte. Seidux hatte zwar den Raum verlassen, als Quaisoir drohte, um Hilfe zu rufen und ihm einen Vergewalti-gungsversuch vorzuwerfen, aber bei einem direkten Angriff blieb er sicher nicht passiv. Wenn er sich gegen ein Messer wehren mußte... Gab es einen besseren Vorwand für ihn, die männliche Dominanz zurückzugewinnen? Judith bedauerte zutiefst, nicht in der Lage zu sein, Claras Mahnungen in bezug auf Männer zu wiederholen, um Quaisoir vor Enttäuschungen und Leid zu bewahren. Sie hatte diese Frau sicher nicht durch Zufall gefunden, obwohl die Umstände einen solchen Anschein erweckten, und sie jetzt zu verlieren... So etwas wäre für Judith eine unerträgliche Ironie des Schicksals gewesen.
    »Manchmal ich schärfen Messer«, sagte Concupiscentia.
    »Behalt eines und bring es mir«, entgegnete Quaisoir und beugte sich dabei noch näher zu der Zofe vor.
    Die nächsten Worte überhörte Judith, weil jemand ihren Namen rief. Überrascht sah sie sich um, und unmmittelbar darauf erkannte sie die Stimme. Hoi-Polloi weckte die Schlafende nach dem Sturm.
    »Papa ist gekommen!« verkündete die junge Frau. »Wachen Sie auf. Mein Vater ist hier!«
    Es blieb Judith keine Zeit, sich von der Traumszene zu verabschieden. Im einen

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