Imagica
lautem Knallen zerplatzten sie auf der Straße - es klang nach Schüssen. Hoi-Polloi zuckte unwillkürlich zusammen.
»Wenn Papa hier wäre...«, sagte sie. »Er schlüge bestimmt vor, daß wir uns etwas genehmigen, um die Nerven zu beruhigen.«
»Was denn?« fragte Dowd. »Meinen Sie vielleicht Brandy?
Oscar hat gelegentlich welchen mitgebracht, wie?«
Hoi-Polloi nickte, holte eine Flasche hervor und füllte drei kleine Gläser.
»Auch Gimpel stammt von ihm«, sagte sie.
»Gimpel?« fragte Judith.
»Der Papagei. Ein Geschenk für mich, als ich noch klein war. Früher gab es auch ein Weibchen, aber es wurde vom Toller unserer Nachbarn gefressen. Was für ein Biest! Jetzt ist Gimpel allein und alles andere als glücklich. Nun, Oscar wird 593
mir bald einen anderen Papagei mitbringen; er hat es versprochen. Mama bekam einmal Perlen von ihm. Und er vergißt nie die Zeitungen für meinen Vater. Papa liebt Zeitungen.«
Hoi-Polloi sprach in derselben Art weiter und unterbrach sich nur, um kurz Luft zu holen. Die drei Gläser wurden gefüllt und geleert, gefüllt und geleert, und der Alkohol blieb nicht ohne Folgen auf Judiths Konzentrationsvermögen. Der Monolog und die sanften Bewegungen der Lampe wirkten wie ein Schlafmittel auf sie, und schließlich bat sie, sich irgendwo hinlegen und ausruhen zu dürfen. Auch diesmal erhob Dowd keine Einwände und überließ es Hoi-Polloi, sie zum Gästezimmer zu führen; er verabschiedete sich mit einem Lallen, aus dem Jude ein ›Träumen Sie schön‹ heraushörte.
Sie streckte sich dankbar im Bett aus, schloß die Augen und dachte, daß es durchaus einen Sinn hatte, jetzt zu schlafen, während der Sturm sie daran hinderte, durch die Straßen zu wandern. Wenn er vorbei war, wollte sie aufbrechen, mit oder ohne Dowd. Die Hoffnung, daß Oscar ihr in diese Domäne folgen würde, schwand allmählich. Entweder hatte er Verletzungen erlitten, die erst kuriert werden mußten, oder der yzordderrexianische Schnellzug war beschädigt worden, als Dowd auf ihn sprang. Was auch immer der Fall sein mochte: Judith wollte nicht noch mehr Zeit verlieren, sich nicht länger gedulden. Ihre Entscheidung stand fest: Nach dem Erwachen würde sie das Haus verlassen, um die Wunder von Yzordderrex kennenzulernen.
Judith träumte davon, einen Ort der Trauer zu besuchen.
Eine dunkle Kammer, die Fenster geschlossen, weil jenseits davon der gleiche Sturm heulte wie außerhalb des Zimmers, in dem sie schlief und träumte - sie wußte, daß sie schlief und träumte, und gleichzeitig war sie vollkommen wach. Das Schluchzen einer Frau weckte ihre Aufmerksamkeit. Der Kummer war fast greifbar, zeichnete sich durch eine 594
schmerzhafte Intensität aus, und Jude wollte ihn lindern, nicht nur um der Person willen, die daran litt - der Gram belastete auch sie selbst. Sie glitt durch die Dunkelheit, näherte sich dem Geräusch und begegnete dabei zahlreichen hauchdünnen Vorhängen. In dem Raum schienen die Schleier von hundert Bräuten zu hängen. Bevor sie die schluchzende Frau erreichte, kam jemand durch die Dunkelheit, näherte sich dem Bett und flüsterte.
»Kreauchee...«, raunte es, und durch die Gaze sah Judith eine Gestalt.
Sie hätte keinen bizarreren Anblick bieten können. Das Geschöpf wirkte selbst in der Finsternis blaß und war nackt; Dutzende von schwanzartigen Gliedmaßen ragten ihm aus dem Rücken. Jude wagte sich etwas näher, um einen besseren Eindruck zu gewinnen, und das Wesen bemerkte sie beziehungsweise die von ihr verursachten Bewegungen der Schleier. Es sah sich um und schien die Nähe eines Eindringlings zu spüren. Als erneut die Stimme der seltsamen Gestalt erklang, vibrierte Besorgnis darin.
»Es sein hier jemand, Lady.«
»Ich empfange niemanden. Erst recht nicht Seidux.«
»Es nicht ist Seidux. Ich keine Person sehe, aber fühlen jemanden.«
Die Frau schluchzte nicht mehr und blickte auf. Die Kammer war dunkel, und weitere zarte Vorhänge erstreckten sich zwischen Jude und dem Bett, aber sie erkannte ihr eigenes Gesicht.
Zwei wesentliche Unterschiede fielen ihr auf: Bei der anderen Judith klebte das Haar am schweißnassen Kopf, und die Augen waren von Tränen verquollen. Trotzdem schreckte sie nicht zurück, sondern verharrte in der für Geister möglichen Reglosigkeit. Die Frau setzte sich auf, und die Trauer verschwand aus ihren Zügen, wich Freude.
»Er hat einen Engel geschickt«, sagte sie zu dem Wesen mit den Rückententakeln. »Concupiscentia... Er hat einen
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