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Imagica

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Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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davon gesprochen, ein neues Yzordderrex zu bauen, aber trotzdem war es schmerzhaft für ihn zu beobachten, wie diese Stadt Kesparat für Kesparat der Verheerung anheimfiel. Hier und dort wuchsen Rauchsäulen empor. Im Hafen brannten Schiffe, und Flammen züngelten aus Bordellen der Geilen Gasse. Rosengartens Prophezeiung erfüllte sich: Alle Apokalyptiker glaubten nun den Tag des Jüngsten Gerichts nahe.
    Manche glaubten, das Verderben käme vom Meer her, und 588

    deshalb verbrannten sie Schiffe; andere hielten nichts von Sex und steckten Freudenhäuser in Brand. Der Autokrat sah zur Kapelle zurück, als Quaisoir etwas lauter schluchzte.
    »Vielleicht sollten wir nicht versuchen, sie zu trösten«, sagte er. »Sie hat allen Grund, Tränen zu vergießen.«
    2
    Erst nach der Ankunft im Keller von ›Sünder‹ Hebberts Haus wurde klar, welche Verletzungen sich Dowd zugezogen hatte, als er zu spät auf den Schnellzug nach Yzordderrex gesprungen war. Zwar wurde sein Körper nicht umgestülpt, aber er trug erhebliche Verletzungen davon und sah aus, als sei er mit dem Gesicht nach unten über einen Kiesweg gezerrt worden: An vielen Stellen war die Haut aufgerissen, und aus den Wunden sickerte jene Flüssigkeit, die bei ihm das Blut ersetzte. Judith erinnerte sich an den Schnitt ins Handgelenk - dabei schien Dowd kaum Schmerzen gespürt zu haben. Doch jetzt litt er. Er hielt ihren Unterarm mit festem Griff umklammert und stellte ihr den schrecklichsten aller schrecklichen Tode in Aussicht, falls sie zu fliehen versuche. Aber zweifellos war er geschwächt, als er sie die Treppe hochzerrte.
    Jude hatte sich nicht vorgestellt, Yzordderrex auf diese Weise zu erreichen, und die Szene am Ende der Treppe stellte eine weitere Überraschung für sie dar. Beziehungsweise eine Enttäuschung. Das - leere - Haus war groß und hell und erwies sich in bezug auf Struktur und Einrichtung als geradezu deprimierend vertraut. Judith erinnerte sich daran, daß es sich um das Heim von Oscars Geschäftspartner handelte: Die Ästhetik der Fünften Domäne entfaltete sicher einen beträchtlichen Einfluß, wenn sich im Keller ein Tor zur Erde befand. Dennoch erschien ihr der Eindruck von häuslicher Heimeligkeit banal. Der einzige exotische Aspekt stammte vom Papagei am Fenster; ansonsten wirkte alles kleinbürgerlich und spießig. Familienfotos neben der Uhr auf 589

    dem Kaminsims; halb verwelkte Tulpen auf dem glänzenden, völlig staubfreien Tisch im Eßzimmer. Draußen auf den Straßen gab es bestimmt weitaus interessantere Dinge zu sehen, aber Dowd war weder in der richtigen Stimmung noch in der geeigneten Verfassung, um auf Entdeckungsreise zu gehen. Er meinte, sie würden in diesem Gebäude bleiben, bis es ihm besser ginge; wenn ein Mitglied der Familie zurückkehrte, sollte Judith schweigen und ihm das Reden überlassen. Andernfalls setze sie nicht nur ihr Leben aufs Spiel, sondern bringe den ganzen Hebbert-Clan in Gefahr.
    Sie zweifelte nicht daran, daß Dowd zu jeder Brutalität fähig war, insbesondere in seinem derzeitigen Zustand. Er verlangte Hilfe von ihr, und sie gehorchte, wusch ihm das Gesicht und trocknete es mit Handtüchern aus der Küche ab. Dabei stellte sie zu ihrem großen Bedauern fest, daß die Wunden nicht annähernd so schlimm waren, wie sie zunächst angenommen hatte - nach ihrer Reinigung begann eine rasche Rekonvaleszenz. Dadurch sah sich Judith mit einem Dilemma konfrontiert - Dowd erholte sich bemerkenswert schnell, und das bedeutete, sie mußte so schnell wie möglich aktiv werden, wenn sie seine Schwäche ausnutzen wollte. Aber wenn sie sich zum Handeln entschloß, wenn sie hier und jetzt aus dem Haus floh, so war sie ganz auf sich allein gestellt in einer Stadt, die sie nicht kannte. Außerdem mußte sie sich dann von dem Ort entfernen, der die einzige Verbindung zur Erde und damit auch zu Oscar darstellte. Nein, sie durfte nicht riskieren, daß Godolphin hier eintraf, während sie eine so gewaltige Stadt durchstreifte, daß sie beide tausend Jahre lang in ihr unterwegs sein konnten, ohne sich jemals zu begegnen.
    Nach einer Weile wurde es draußen stürmisch, und der Wind wehte ein Familienmitglied zur Tür herein: eine schlaksige junge Frau um die zwanzig, die ein Kleid mit Blumenmuster und einen Umhang darüber trug. Die Präsenz der beiden Fremden im Haus - einer von ihnen verletzt - schien sie 590

    überhaupt nicht zu erstaunen.
    »Sind Sie Bekannte meines Vaters?« fragte sie und nahm die Brille ab.

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