Imagica
Hinter den dicken Gläsern kamen schielende Augen zum Vorschein.
Dowd bestätigte die vermutete Freundschaft mit ›Sünder‹
Hebbert und begann damit, die Umstände ihrer Ankunft zu erklären. Doch die junge Frau bat ihn, mit der Geschichte zu warten, bis sie alle Fensterläden geschlossen hatte. Sie forderte Judith auf, ihr zu helfen, und Dowd erhob keine Einwände, sicher ging er dabei von der Annahme aus, daß seine Gefangene wohl kaum während eines Sturms in eine ihr fremde Stadt entfliehen würde. Die ersten Böen ließen die Tür erzittern, als Jude und Hoi-Polloi durchs Haus eilten und alle Fenster schlossen. Aufgewirbelter Sand verwehrte bereits den Blick in die Ferne, aber Judith sah genug von der Stadt, um zu wissen: Es konnte nicht mehr lange dauern, bis zahllose Wunder das monatelange Warten belohnen würden.
An den Hängen jenseits des Hauses gab es Hunderte von Terrassen mit Straßen und Gassen, die bis zu den monumentalen Mauern und Türmen eines Gebäudekomplexes emporreichten, den Hoi-Polloi als Palast des Autokraten bezeichnete. Durch ein Mansardenfenster konnte man den Ozean sehen, der jedoch wenige Sekunden später hinter Wolken aus Sand verschwand. Nun, derartige Panoramen -
Meer, Dächer und Türme - gab es auch in der Fünften, doch die Leute auf den Straßen bewiesen eindeutig, daß es sich um eine andere Domäne handelte. Judith bemerkte Menschen und viele andere Wesen, die nun Schutz vor dem beginnenden Sturm suchten. Sie beobachtete ein Geschöpf, das einen riesigen Schädel hatte und mit zwei schweineartigen Tieren unter die Arme geklemmt am Haus vorbeistapfte. Einige Jugendliche, kahlköpfig und in Tuniken gekleidet, eilten in die andere Richtung, dabei schwangen sie kleine Rauchfässer wie Bolas.
Auf der anderen Straßenseite wurde ein Mann mit 591
kanariengelbem Bart und porzellanartiger Haut in ein Haus getragen - er war verletzt und schrie wütend.
»Überall gibt es Aufruhr«, sagte Hoi-Polloi. »Ich wünschte, Papa kehrte endlich heim.«
»Wo ist er?« fragte Judith.
»Unten am Hafen. Weil er eine Lieferung von den Inseln erwartet.«
»Können Sie ihn nicht anrufen?«
»Anrufen?« wiederholte die junge Frau verwirrt.
»Ja. Mit einem Telefon. Ich meine...«
»Ich weiß, was Sie meinen«, sagte Hoi-Polloi. »Onkel Oscar hat mir einmal ein solches Gerät gezeigt. Hier sind sie verboten.«
»Warum?«
Judes Gesprächspartnerin zuckte mit den Schultern. »Gesetz ist Gesetz«, sagte sie schlicht und spähte noch einmal in den Sturm hinaus, bevor sie die letzten Fensterläden schloß. »Papa ist bestimmt vernünftig«, fuhr sie fort. »Damit beherzigt er meinen Rat - ich bitte ihn immer wieder darum, vernünftig zu sein.«
Sie gingen die Treppe hinunter und sahen Dowd, der die Eingangstür geöffnet hatte und auf der Schwelle stand. Heiße Luft wehte Sand herein, roch scharf und nach Ferne. Hoi-Polloi befahl Oscars Assistenten, ins Haus zurückzukommen, und dabei lag eine Schärfe in ihrer Stimme, die in Judith Sorge um sie weckte. Doch Dowd gehorchte, begnügte sich damit, die Rolle des reuigen Gastes zu spielen. Hoi-Polloi schloß die Tür und schob den Riegel vor, anschließend erkundigte sie sich, ob Judith und Dowd Tee wünschten. In allen Zimmern baumelten die von der Decke herabhängenden Lampen, und lose Fensterläden klapperten im böigen Wind. Angesichts solcher Umstände war es schwer, eine entspannte Atmosphäre zu schaffen, doch die junge Frau gab sich alle Mühe, eine ganz normale Konversation zu ermöglichen, während sie einen Topf 592
mit Darjeeling aufsetzte und Madeirakuchen anbot. Das Absurde an der aktuellen Situation amüsierte Judith. Hier sa-
ßen sie beim Tee, in einer Stadt, wie sie exotischer nicht sein konnte, die von Sturm und Revolution heimgesucht wurde.
Wenn Oscar jetzt erscheint..., dachte Jude. Er würde sich bestimmt sehr wohl fühlen, seinen Kuchen in den Tee tunken und über Kricket sprechen, wie ein perfekter englischer Gentleman.
»Wo ist der Rest Ihrer Familie?« wandte sich Dowd an Hoi-Polloi, als es beim Gespräch wieder um den abwesenden Vater der jungen Dame ging.
»Mama und meine Brüder haben sich aufs Land zurückgezogen«, erklärte Hoi-Polloi. »Weil es in der Stadt immer gefährlicher wird.«
»Aber Sie sind hiergeblieben.«
»Wegen Papa. Jemand muß sich um ihn kümmern. Er ist meistens vernünftig - wenn ich ihn häufig genug ermahne.«
Ein besonders heftiger Windstoß riß einige Dachpfannen fort, und mit
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