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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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bereits einen Gaugin kopiert, ein kleines Bild, das der freie Markt problemlos akzeptierte. War er noch einmal dazu imstande? Gentle versprach, einen so guten Gaugin zu malen, daß der wahre Künstler Freudentränen vergossen hätte. Klein bezahlte fünfhundert Pfund als Vorschuß - Miete für das Atelier - und meinte, Gentle sähe jetzt zwar wesentlich besser aus als vorher, rieche jedoch viel schlimmer.
    John Furie Zacharias scherte sich nicht darum. Es machte ihm kaum etwas aus, zwei Tage lang auf ein Bad zu verzichten, solange er allein war. Und warum sollte er sich rasieren, wenn keine Frau da war, die über stechende Barthaare klagte?
    Außerdem hatte er seine ganz private Erotik wiederentdeckt: eine Hand und viel Fantasie. Es genügte. Man gewöhnte sich daran, auf diese Weise zu leben. Irgendwann störte man sich nicht mehr am Anblick des eigenen Bauchs, an schweißfeuchten Achseln und dem juckenden Sack. Erst am Wochenende kehrten Gentles Gedanken zu Unter-haltungsformen zurück, die sich nicht nur auf sein Spiegelbild beschränkten. Während des vergangenen Jahres hatte es kaum einen Freitag oder Samstag ohne Verabredungen oder Partys 62

    gegeben, bei denen er Vanessas Freunde traf. Ihre Telefonnummern standen noch immer im Notizbuch, sie waren nur einen Anruf entfernt, aber er brachte es nicht über sich, Kontakt herzustellen. Wie sympathisch er ihnen auch gewesen sein mochte: Es handelte sich um Vanessas Freunde, und bestimmt hielten sie zu ihr.
    Was seine eigenen Freunde betraf, jene Bekannten, die vor Vanessa Teil von Gentles Leben gewesen waren... Sie schienen nicht mehr zu existieren. Sie gehörten nun zur Vergangenheit, und er verband nur vage Erinnerungen mit ihnen. Leute wie Klein entsannen sich selbst an die unwichtigsten Einzelheiten von mehr als dreißig Jahre zurückliegenden Ereignissen, aber Gentle wußte kaum mehr, was vor einem Jahrzehnt geschehen war. Wenn es um noch ältere Dinge ging, versagte sein Gedächtnis. Irgend etwas in ihm bewahrte gerade genug Reminiszenzen, um der Gegenwart Plausibilität zu geben; der Rest wurde einfach gestrichen. Normalerweise verbarg Gentle diese Schwäche und erfand Details, wenn jemand zu hartnäckige Fragen stellte. Doch weckte das kaum Besorgnis in ihm. Er wußte nicht, was es bedeutete, eine persönliche Vergangenheit zu haben, und daher stellte sich bei ihm nie das Gefühl ein, etwas zu vermissen. Wenn er hörte, wie andere über Kindheit und Jugend redeten, so gelangte er oft zu folgendem Schluß: Eine Menge davon beruhte auf Vermutungen und Mutmaßungen; manches war schlicht und einfach erfunden.
    Er blieb nicht allein in seiner Unwissenheit. Judith hatte ihm einmal anvertraut, daß es auch ihr schwerfiele, Vergangenes in die richtige Reihenfolge zu bringen, ohne dabei die Übersicht zu verlieren. Allerdings war sie damals betrunken gewesen, und als Gentle sie später darauf ansprach, stritt sie alles ab.
    Angesichts der vielen verlorenen und vergessenen Freunde fühlte sich Gentle an diesem Samstagabend trotzdem sehr allein. Als er schließlich entschied, doch jemanden anzurufen, 63

    klingelte das Telefon.
    »Furie«, sagte er, und so fühlte er sich - wie eine Furie. Es rauschte leise in der Leitung, doch er bekam keine Antwort.
    »Wer ist da?« fragte er. Stille. Verärgert legte er auf, und einige Sekunden später klingelte es erneut. »Melden Sie sich, verdammt!« knurrte Gentle, und diesmal hörte er die Stimme eines Mannes. Aber sie nannte nicht etwa seinen Namen, sondern stellte eine Frage.
    »Spreche ich mit John Zacharias?«
    Es geschah nicht oft, daß man Gentle so nannte.
    »Wer ist da?« wiederholte er.
    »Wir sind uns nur einmal begegnet. Vermutlich erinnern Sie sich nicht an mich. Charles Estabrook?«
    Einige Leute verweilten länger in Gentles Gedächtnis als andere. Zum Beispiel Estabrook. Jener Mann, der Jude in ihrem Kummer Trost spendete. Ein klassischer Engländer, Angehöriger der Aristokratie sowie des Finanzadels, aufge-blasen, eingebildet, herablassend und...
    »Ich möchte gern ein Gespräch mit Ihnen führen, wenn Sie Zeit erübrigen können.«
    »Ich bezweifle, ob wir beide etwas zu besprechen haben.«
    »Es geht um Judith, Mr. Zacharias. Ich muß diese Angelegenheit streng vertraulich behandeln, und gleichzeitig halte ich es für angebracht, ihre enorme Wichtigkeit mit großem Nachdruck zu betonen.«
    Die gedrechselte Ausdrucksweise veranlaßte Gentle, eine Grimasse zu schneiden. »Spucken Sie's aus«, erwiderte

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