Imagica
ein mitfühlender Beichtvater zu wirken. »Was bedeutet das?« murmelte er verwirrt.
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Chant stöhnte, während die Fäulnis weiterhin an ihm fraß.
Der nachdenkliche Dowd begriff plötzlich, daß nur noch wenig Zeit blieb.
»Wo ist der Mystif?« zischte er. »Schnell, sag es mir.
Schnell!«
Chants Gesicht löste sich auf. Totes Fleisch glitt von schmierigen Knochen. Als er antwortete, bewegte sich nur die eine Hälfte des Mundes. Er stieß die Worte hastig hervor, um sein Gewissen von der Last zu befreien.
»Danke«, sagte Dowd, als er alle Informationen bekommen hatte. »Vielen Dank.« Er wandte sich an die Voider. »Laßt ihn los.«
Sie ließen ihn einfach auf den Boden fallen. Der Aufprall zerschmetterte Chants Gesicht, und kleine Fetzen davon spritzten bis zu Dowds Schuhen. Voller Abscheu betrachtete er die Mischung aus Schleim und Knochensplittern.
»Säubert sie«, befahl er.
Die Voider gehorchten sofort und wischten die teuren Schuhe ab.
»Was bedeutet das alles?« fragte sich Dowd erneut.
Bestimmt zeichneten sich diese Ereignisse durch Synchronismus aus. In knapp sechs Monaten wiederholte sich in Imagica der Jahrestag der Rekonziliation. Dann waren zwei Jahrhunderte verstrichen, seit Maestro Sartori vergeblich versucht hatte, das größte magische Werk in dieser und allen anderen Domänen zu vollbringen.
Die Pläne dafür entstanden damals, hier an diesem Ort, in der Gamut Street Nummer achtundzwanzig, und auch der Mystif Pie'oh'pah hatte an den Vorbereitungen teilgenommen.
Doch Ehrgeiz und Begeisterung endeten in einer Tragödie.
Das Bemühen, den Riß in Imagica zu schließen und die Fünfte Domäne mit den anderen vier zu vereinen, führten zu einer Katastrophe. Viele große Theurgen, Schamanen und Theologen kamen ums Leben. Um zu vermeiden, daß sich ein solches 59
Fiasko wiederholte, begannen einige der Überlebenden damit, alle magischen Kenntnisse aus der Fünften zu tilgen.
Aber so sehr sie auch versuchten, die Vergangenheit auszuradieren - die Schiefertafel der Geschichte konnte nicht ganz gereinigt werden. Fragmente von Träumen und Hoffnungen klebten an ihr fest, Teile von Gedichten über Einheit - nur die Namen der Verfasser waren aus allen historischen Unterlagen entfernt worden. Solange so etwas existierte, überlebte der Geist der Rekonziliation.
Aber Geist allein genügte nicht. Man benötigte einen Maestro. Einen Magier, ausgestattet mit genug Arroganz, um zu glauben, daß er dort Erfolg haben konnte, wo Christos und zahlreiche andere Zauberer - viele von ihnen längst vergessen -
versagt hatten. Zwar waren dies glücklose Zeiten, aber Dowd hielt es trotzdem für möglich, daß eine derartige Seele erscheinen konnte. Während seines täglichen Lebens traf er dann und wann Personen, die hinter den leeren Prunk blickten, von dem sich die meisten anderen blenden ließen - Leute, die sich eine Offenbarung wünschten, ein Feuer, das den Pomp verbrannte, eine Apokalypse, die der Fünften Domäne jene Pracht zeigte, nach der sie sich in ihrem Schlaf sehnte.
Wenn tatsächlich ein Maestro kam, so mußte er sich beeilen.
Der zweite Versuch einer Rekonziliation konnte nicht über Nacht geplant werden: Wenn der nächste Hochsommer ungenutzt verstrich, blieb Imagica noch einmal zweihundert Jahre lang geteilt. Zeit genug für die Fünfte Domäne, um sich aus Langeweile oder Frust selbst zu zerstören und zu verhindern, daß die Rekonziliation jemals stattfand.
Dowd blickte auf seine jetzt wieder sauberen Schuhe hinab.
»Perfekt«, sagte er. »Was man vom Rest dieser gräßlichen Welt nicht behaupten kann.«
Er schritt zur Tür. Die Voider hingegen verharrten beim Toten; sie waren intelligent genug, um zu wissen, daß sie noch eine Pflicht zu erfüllen hatten. Dowd rief sie trotzdem von 60
Chants Resten fort.
»Wir lassen die Leiche hier«, teilte er den Wesen mit. »Wer weiß? Vielleicht scheucht sie einige Geister auf.«
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KAPITEL 5
l
Zwei Tage nach Judiths nächtlichem Anruf - während dieser beiden Tage hatte Gentle aufgrund des defekten Durch-lauferhitzers im Atelier die Wahl gehabt, entweder in eiskaltem Wasser zu baden oder sich nicht zu waschen; er entschied sich für die zweite Möglichkeit - bestellte ihn Klein mit guten Neuigkeiten in seine Residenz. Der Mäzen kannte einen Kunden, dessen besondere Wünsche bisher unerfüllt geblieben waren, und Chester deutete ihm gegenüber an, er sei vielleicht in der Lage, etwas Interessantes zu beschaffen. Gentle hatte
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