Imagica
blieb nicht stehen. Sollte der Bursche ruhig außer Atem geraten.
»In Ordnung!« schnaufte es hinter ihm. »In Ordnung, ich 69
gebe Ihnen den Brief!«
Gentle ging etwas langsamer, blieb jedoch nicht stehen.
Estabrook schloß zu ihm auf, das Gesicht aschfahl.
»Hier ist er«, keuchte der Mann.
Gentle nahm den Zettel und steckte ihn ein, ohne einen Blick darauf zu werfen. An Bord des Flugzeuges würde ihm genug Zeit bleiben, die Mitteilung zu lesen.
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KAPITEL 6
l
Chants Leiche wurde am nächsten Tag gefunden, und zwar von dem dreiundneunzig Jahre alten Albert Burke, der nach seiner Promenadenmischung Kipper suchte. Schon von der Straße aus witterte der Köter etwas, das der Alte erst bemerkte, als er die Treppe hochstieg und nach dem Hund pfiff: Verwesungsgestank. Im Herbst 1916 hatte Albert an der Somme für sein Land gekämpft, in Schützengräben voller Leichen. Anblick und Geruch des Todes machten ihm kaum etwas aus. Seine gelassene Reaktion auf die schauderhafte Entdeckung gab der Geschichte Farbe, als man in den Abendnachrichten darüber berichtete. Dadurch wurde mehr Interesse an dem Vorfall geweckt, als es normalerweise der Fall gewesen wäre, was wiederum zu genauen Ermittlungen im Hinblick auf die Identität des Toten führte. Nur einen Tag später brachten die Zeitungen ein Bild - man hatte sein Gesicht zeichnerisch rekonstruiert -, das den Mann so zeigte, wie er wohl als Lebender ausgesehen hatte. Am Mittwoch meldete sich eine Frau, die in einem großen Mietshaus südlich des Flusses wohnte - sie identifizierte den bis dahin Namenlosen als ihren Nachbarn Mr. Chant.
Bei der Untersuchung seiner Wohnung gelangte man zu Vermutungen, die Chants Vergangenheit betrafen. Die Polizei gelangte zu dem Schluß, daß er Anhänger irgendeiner sonderbaren Religion gewesen war. Ein kleiner Altar stand in der Mitte seines Zimmers, geschmückt mit eingeschrumpften Schädeln, die selbst den gerichtsmedizinischen Experten ein Rätsel blieben. Zu den verschiedenen Figuren gehörte eine Skulptur mit so starker sexueller Ausstrahlungskraft, daß es die Zeitungen nicht einmal wagten, eine Skizze zu veröffentlichen.
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Die Boulevardpresse fand großen Gefallen an der Story -
immerhin stammten die Artefakte aus dem Besitz eines Mannes, der nun als Opfer eines Mordes galt. Leitartikel kritisierten mit kaum verhülltem Rassismus die Ausbreitung von abartigen ausländischen Religionen, und in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen kamen Berichte von Albert Burke und seinen Erlebnissen an der Somme hinzu. Auf diese Weise erregte Chants Tod viel Aufmerksamkeit, was gewisse Konsequenzen nach sich zog: Rechtsradikale verübten Anschläge auf Moscheen in London; die Mietskaserne, in der Chant gewohnt hatte, wurde für abbruchreif erklärt - und Dowd suchte einen bestimmten Turm in Highgate auf, um dort seinen Herrn Oscar Godolphin - den Bruder Estabrooks - zu vertreten.
2
Um 1780 war der Hang von Highgate Hill so steil und zerfurcht gewesen, daß es Kutschen häufig nicht bis nach oben schafften. Fahrten zur Stadt erwiesen sich als gefährlich genug, um kluge Leute zu veranlassen, Pistolen griffbereit zu halten.
Damals baute der Kaufmann Thomas Roxborough ein hübsches Haus an der Hornsey Lane und nahm dabei die Dienste des Architekten Henry Holland in Anspruch. Es bot ein prächtiges Panorama: Im Süden konnte man bis zum Fluß sehen; im Norden und Westen reichte der Blick über weite Weiden bis zu einem kleinen Ort namens Hampstead. Das Panorama existierte nach wie vor für die Touristen auf der Brücke über die Archway Road, doch Roxboroughs hübsches Haus war verschwunden. Seit den dreißiger Jahren nahm seine Stelle ein anonymer zehnstöckiger Turm ein. Zwischen der Straße und dem Gebäude bildeten Bäume eine lange Reihe: Sie wuchsen nicht dicht genug nebeneinander, um das Bauwerk vollkommen zu verbergen, aber sie formten trotzdem eine Wand, hinter der die Mauern des Turms praktisch unsichtbar blieben. Der Postbote brachte nur Wurfsendungen oder 72
Behördenbriefe. Es gab keine Mieter, weder Personen noch Firmen. Trotzdem wirkte Roxborough Tower keineswegs vernachlässigt. Etwa einmal im Monat versammelten sich die Eigentümer in einem Zimmer des obersten Stocks und setzten damit eine zweihundert Jahre alte Tradition fort.
Die Männer und Frauen - insgesamt elf -, die sich dort trafen und einige Stunden lang miteinander sprachen, waren Nachkommen jener leidenschaftlichen Schar, die Roxborough während
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