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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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er.
    »Nicht am Telefon. Wir sollten uns irgendwo treffen. Ein ungewöhnliches Anliegen, ich weiß, aber bitte ziehen Sie es in Erwägung.«
    »Das habe ich bereits. Die Antwort lautet nein. Ich bin nicht an einer Begegnung mit Ihnen interessiert.«
    »Nicht einmal dann, wenn Sie Gelegenheit zu Schadenfreude bekämen?«
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    »Schadenfreude?«
    »Ich habe Judith verloren«, erklärte Estabrook. »Sie hat mich ebenso verlassen wie Sie, Mr. Zacharias. Vor dreiunddreißig Tagen.« Die Genauigkeit dieser Angabe verriet viel. Zählte er nicht nur die Tage, sondern auch die Stunden? Und vielleicht sogar die Minuten? »Es ist nicht notwendig, daß Sie zu mir nach Hause kommen. Um ganz ehrlich zu sein: Ich ziehe einen anderen Treffpunkt vor.«
    Estabrook klang so, als hätte sich Gentle schon zu einem Rendezvous bereit erklärt. Das war zwar nicht der Fall, aber Zacharias wußte, daß er seiner Neugier nachgeben würde.
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    Es grenzte an Grausamkeit, einen so alten Mann wie Estabrook an einem kalten Tag nach draußen zu holen und ihn zu zwingen, den Hang eines Hügels emporzuklettern. Aber Gentle nutzte jede Chance für eine Genugtuung. Darüber hinaus bot Parliament Hill ein gutes Panorama, selbst wenn der beginnende Winter die Farben aus der Welt verbannte. Frischer Wind wehte, und das übliche Sonntagsritual fand statt: Kinder ließen Drachen steigen. Estabrook schnaufte nach der anstrengenden Wanderung, doch er schien mit dem Treffpunkt einverstanden zu sein.
    »Schon seit vielen Jahren habe ich diesen Ort nicht mehr besucht. Meine erste Frau kam oft hierher, um die Drachen zu beobachten.«
    Er holte eine kleine Brandyflasche hervor und bot zuerst Gentle einen Schluck an. Zacharias lehnte ab.
    »Die Kälte steckt mir jetzt dauernd in den Knochen. Einer der Nachteile des Alters. Die Vorteile sind mir noch immer unbekannt. Wie alt sind Sie?«
    Gentle wußte es nicht genau, antwortete jedoch: »Fast vierzig.«
    »Sie sehen jünger aus. Seit unserer ersten Begegnung haben 65

    Sie sich kaum verändert. Erinnern Sie sich? Bei der Auktion.
    Sie waren damals mit Judith zusammen - und ich war allein.
    Darin bestand der wichtigste Unterschied zwischen uns. Mit und ohne. Ich habe sie beneidet wie nie jemanden zuvor. Nur weil Jude neben Ihnen saß. Nun, später zeigte sich jener Neid in den Gesichtern anderer Männer...«
    »Ich bin nicht hier, um mir so etwas anzuhören«, sagte Gentle.
    »Ja, ich weiß. Ich wollte nur darauf hinweisen, wieviel mir an ihr lag. Die mit Jude verbrachten Jahre waren die besten meines ganzen Lebens. Doch das Beste bleibt nicht ewig von Bestand - sonst wäre es wohl kaum das Beste, oder?«
    Estabrook trank erneut. »Sie hat nie von Ihnen gesprochen«, fuhr er fort. »Ich habe Judith immer wieder nach Ihnen gefragt, aber angeblich gab es in ihrem Denken und Empfinden keinen Platz mehr für Sie. Was natürlich Unsinn ist...«
    »Ich glaube es.«
    »Ein Fehler«, kommentierte Estabrook. »Ihretwegen hatte sie ein schlechtes Gewissen.«
    »Wollen Sie mir schmeicheln?«
    »Es ist die Wahrheit. Judith liebte Sie selbst dann noch, als sie mit mir zusammen war. Deshalb treffen wir uns hier. Weil ich es weiß. Und Sie ebenfalls.«
    Estabrook nannte ihren Namen, aber aus irgendeinem Grund schien Judith trotzdem anonym zu bleiben, wie eine absolute und unsichtbare Macht. Ihre Liebhaber erweckten den Eindruck, mit beiden Beinen fest auf dem Boden zu stehen, doch in Wirklichkeit flatterten sie wie die Drachen der Kinder hin und her, nur durch die Erinnerung an sie mit der Realität verbunden.
    »Ich habe schreckliche Schuld auf mich geladen, John«, sagte Estabrook und hob die Brandyflasche erneut zu den Lippen. Er trank mehrere Schlucke, bevor er sie einsteckte.
    »Und ich bereue es sehr.«
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    »Was meinen Sie?«
    »Gehen wir einige Schritte?« Estabrook blickte zu den anderen Leuten hinüber, die jedoch viel zu sehr auf die bunten Papierdrachen am Himmel konzentriert waren, um das Gespräch zu belauschen. Trotzdem beichtete er erst, als ihn die doppelte Entfernung von ihren Ohren trennte. Und er nahm dabei kein Blatt vor den Mund. »Ich weiß nicht, was über mich kam«, sagte er. »Wie dem auch sei: Ich habe jemanden beauftragt, Judith umzubringen.«
    »Was?«
    »Sind Sie jetzt schockiert?«
    »Was dachten Sie denn? Natürlich bin ich schockiert.«
    »Der Wunsch, die Existenz einer anderen Person zu beenden, anstatt sie allein weiterleben zu lassen, ohne die eigene Gesellschaft... Das ist die höchste Form

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