Imagica
Geburt, gaben die Atmosphäre gut wieder und zeigten auch Straßenhändler, Komödianten und Stutzer.
Lu'chur'chem bemerkte die stumme Sehnsucht in den Augen des Mystifs, als er die Bilder betrachtete.
»Nie wieder, wie?« fragte er.
»Nie wieder was?«
»Nie wieder können wir durch Straßen wandeln und die Welt so sehen, wie sie sich am Morgen darbietet.«
»Nein?«
»Nein«, bestätigte Lu'chur'chem. »Wir kehren nicht zurück, und das wissen wir beide.«
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»Diese Vorstellung belastet mich kaum«, erwiderte Pie. »Ich habe viel gesehen und noch mehr empfunden. Ich bedauere nichts.«
»Hatten Sie ein langes Leben?«
»Ja.«
»Und Ihr Maestro? Hatte auch er ein langes Leben?«
»Ja«, antwortete Pie und betrachtete erneut die Szenen an den Wänden.
Die Darstellungen waren schlicht und einfach, aber sie weckten Erinnerungen in dem Mystif - deutlich entsann er sich an die Wanderungen, die ihn und den Maestro durch belebte Alleen geführt hatten, damals, an den sonnigen, hoffnungsvollen Tagen der Rekonziliation. Er sah die vornehmen Straßen von Mayfair vor sich, gesäumt von Geschäften, die erlesene Waren anboten, für die sich elegante Frauen interessierten: Sie kauften dort Lavendelwasser, Mantuaseide und schneeweißen Musselin. Er beobachtete das Durcheinander der Oxford Street: Fünfzig oder mehr Verkäufer warben mit lauten Stimmen um Kunden, versuchten mit mehr oder weniger Geschick Hausschuhe, Wildgeflügel, Kirschen und Pfefferkuchen an den Mann zu bringen. Sie alle wetteiferten um einen Platz auf dem Pflaster, und jeder trachtete danach, noch lauter zu schreien als die Konkurrenten.
Ein anderes Bild präsentierte dem Mystif ein Volksfest; er vermutete, daß es am Bartholomäustag stattfand: Dort gab es mehr Sündhaftes am Tag als des Nachts in Babylon.
»Wer hat das gemalt?« überlegte Pie laut, als sie weitergingen.
»Verschiedene Hände, wie's scheint«, entgegnete Lu'chur'chem. »Man kann sehen, wo ein Stil aufhört und in einen anderen übergeht.«
»Jemand hat den Malern die Motive beschrieben, ihnen Einzelheiten genannt. Oder der Autokrat entführte Künstler aus der Fünften Domäne.«
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»Was durchaus möglich ist«, sagte Lu'chur'chem. »Sogar wahrscheinlich. Er verschleppte Maler. Und er zwang ganze Völker zur Sklavenarbeit, um seinen Palast zu errichten.«
»Und nie hat ihm jemand die Stirn geboten, ihm Widerstand geleistet?«
»Oh, es kam immer wieder zu Aufständen und Rebellionen, aber der Autokrat griff jedesmal hart durch. Er brannte Universitäten nieder, hängte die Theologen und Radikalen.
Wer sich gegen ihn auflehnte, war des Todes. Außerdem hatte er den Zapfen - die meisten Leute sehen darin ein Zeichen für das Einverständnis des Unerblickten. Wenn Hapexamendios nicht wollte, daß der Autokrat über Yzordderrex herrscht, warum hat Er ihm dann erlaubt, den Zapfenhierherzubringen?
So heißt es. Nun, ich bin der Ansicht...« Lu'chur'chem blieb stehen und sah zu Pie zurück. »Was ist los?«
Der Mystif starrte auf ein ganz bestimmtes Bild und schnappte nach Luft.
»Stimmt was nicht?« fragte Lu'chur'chem.
Pie brauchte einige lange Sekunden, um die Stimme wiederzufinden. »Ich glaube, wir sollten nicht weitergehen.«
»Wie bitte?«
»Zumindest nicht zusammen. Ich bin verurteilt worden.
Deshalb sollte auch ich diese Sache zu Ende bringen.«
»Was ist plötzlich in Sie gefahren? Bisher haben wir alles gemeinsam überstanden, und ich möchte die Genugtuung haben, zusammen mit Ihnen das Ziel zu erreichen.«
Der Mystif wandte sich von dem Bild ab, das ihn so sehr verblüfft hatte. »Was ist wichtiger - Genugtuung für Sie oder ein Erfolg der Mission?«
»Sie kennen die Antwort.«
»Dann vertrauen Sie mir. Ich muß jetzt allein weiter. Warten Sie hier auf mich, wenn Sie wollen...«
Mit einem heiseren Knurren brachte Lu'chur'chem sein Mißfallen zum Ausdruck.
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»Ich bin hierhergekommen, um den Autokraten zu töten«, sagte er.
»Nein. Sie haben mich begleitet, um mir zu helfen, und dieser Aufgabe sind Sie gerecht geworden. Meine Hände müssen dem Herrscher das Leben nehmen, nicht Ihre. So lautet das Urteil.«
»Ach, plötzlich geht's Ihnen nur noch um das Urteil! Ich pfeife darauf! Ich will den Autokraten als Leiche sehen! Ich möchte auf sein totes Gesicht hinunterstarren.«
»Ich bringe Ihnen seine Augen«, sagte Pie. »Mehr kann ich nicht versprechen. Und ich meine es ernst, Lu'chur'chem. Wir müssen uns hier trennen.«
Der Eurhetemec
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