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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Gentle, als sie an den Bildern vorbeischritten. »Hier erinnert sich jemand an England.«
    Sie blieben nicht stehen, um die Gemälde genauer zu betrachten, aber Zacharias erkannte auch so, daß Signaturen fehlten. Jene Künstler, die englische Szenen auf so liebevolle Weise festgehalten hatten, wollten offenbar anonym bleiben.
    »Ich glaube, wir sollten die oberen Stockwerke aufsuchen«, schlug Nikaetomaas vor, als sie zu einer monumentalen Treppe gelangten. »Je höher wir kommen, desto leichter gewinnen wir eine Vorstellung von der Struktur des Palastes.«
    Die Stufen führten insgesamt fünf Etagen nach oben - jeder Stock präsentierte weitere verlassene Galerien -, und kurze Zeit später fanden sie einen Korridor, der es ihnen erlaubte, aufs Dach zu klettern. Dort sahen sie das wahre Ausmaß des Labyrinths, in dem sie sich verirrt hatten. Überall ragten gewaltige Türme empor, und unten erstreckten sich zahllose Höfe. Auf manchen davon marschierten Truppen, doch die meisten schienen so leer zu sein wie die Korridore im Innern des Gebäudekomplexes. Dahinter erhoben sich die Mauern und Wehrwälle, und jenseits davon dehnte sich die in Rauch gehüllte Stadt - die Geräusche des Kampfes in den Straßen von Yzordderrex klangen hier gedämpft, schienen aus einer 658

    anderen Welt zu kommen. Der Blick in die Ferne ließ Gentle und seine Begleiterin für einige Sekunden vergessen, warum sie hierhergekommen waren, doch plötzlicher Lärm in der Nähe holte sie rasch in die Realität zurück. Zacharias zuckte ebenso zusammen wie Nikaetomaas, und gleichzeitig spürte er fast so etwas wie Erleichterung: Es gab also Leben in diesem Mausoleum, auch wenn es mit dem Feind identisch war. Sie wandten sich in die Richtung, aus der sie gekommen waren, eilten über die breite Treppe und passierten eine überdachte Brücke zwischen zwei Türmen.
    »Kapuzen!« stieß Nikaetomaas hervor, stopfte ihre zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haare hinter den Kragen des Hemds und zog sich einen langen Stoffetzen über den Kopf.
    Gentle folgte ihrem Beispiel, bezweifelte jedoch, ob ihnen diese Art von Verkleidung etwas nützen würde, wenn man sie entdeckte.
    In der Galerie voraus erteilte jemand Befehle, und Gentle zog Nikaetomaas beiseite, um zu lauschen. Er hörte einen Offizier, der offenbar versuchte, die Moral seiner Truppe zu heben: Jedem Mann, der einen Eurhetemec tötete, versprach er einen Monat bezahlten Urlaub. Jemand fragte, mit wie vielen Gegnern zu rechnen sei, und der Offizier erwiderte, er hätte von insgesamt sechs gehört. Doch das müsse ein Irrtum sein, fügte er hinzu, denn dem Feind waren bisher zehnmal so viele Soldaten zum Opfer gefallen. Aber ganz gleich, wie viele es seien, sechs, sechzig oder sechshundert: Sie waren in jedem Fall in der Minderzahl und konnten nicht damit rechnen, lebend zu entkommen. Im Anschluß an diese Worte teilte der Offizier sein Kontingent in einzelne Gruppen und wies die Männer an, sofort zu schießen, wenn sie den Gegner sahen.
    Drei Soldaten gingen in Richtung des Verstecks, in dem sich Gentle und Nikaetomaas verbargen. Sie waren kaum daran vorbei, als die Manglerin vortrat und zwei Uniformierte mit wohlgezielten Hieben zu Boden schickte. Der dritte drehte sich 659

    um und wollte seine Waffe ziehen, doch er bekam es mit Gentle zutun. Dem Menschen aus der Fünften Domäne fehlten Nikaetomaas' Masse und Muskelkraft, statt dessen verließ er sich auf sein Geschick: Er stürzte sich auf den Mann und prallte so wuchtig gegen ihn, daß der Soldat das Gleichgewicht verlor und fiel. Aber er rollte sich sofort herum, riß eine Pistole hervor und legte an...
    Nikaetomaas griff nach Waffe und Hand und zog den Uniformierten hoch, bis sich sein Kopf auf einer Höhe mit ihrem befand. Die Mündung der Pistole wies zur Decke, und die Pranke der Manglerin übte solchen Druck aus, daß der Mann keine Möglichkeit hatte, den Abzug zu betätigen. Mit der freien Hand nahm sie ihm den Helm ab, um ihm ins Gesicht zu sehen.
    »Wo ist der Autokrat?«
    Der Uniformierte war viel zu erschrocken, um eine Antwort zu verweigern. Außerdem: Schmerz riet ihm, keinen sinnlosen Widerstand zu leisten.
    »Im Zapfenturm«, keuchte er.
    »Der sich wo befindet...?«
    »Es ist der höchste aller Türme«, ächzte der Mann und tastete nach dem Arm, an dem er hing - Blut rann daran herab.
    »Bring uns dorthin«, sagte Nikaetomaas. »Bitte.«
    Der Soldat biß die Zähne zusammen und nickte, woraufhin ihn die Manglerin losließ.

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